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Knochenkälte

Titel: Knochenkälte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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euch wissen vielleicht schon, warum ich hier bin.«
    Ich starre auf mein Pult. Es ist so weit.
    »Raymond Dyson aus der zehnten Klasse wird vermisst.«
    Ich lasse meinen Atem ausströmen, zu überrascht, um erleichtert zu sein.
    »Wie ihr vielleicht wisst, war er zuletzt im Royal Victoria Hospital in Barrie in Behandlung. Sein Zustand ist wegen der
Infektion ziemlich schlecht. Jedenfalls scheint er letzte Nacht heimlich das Krankenhaus verlassen zu haben, und wir brauchen eure Hilfe, um ihn zu finden. Kann sein, dass er verwirrt ist. Hat jemand von euch Raymond in den letzten zwölf Stunden gesehen oder von ihm gehört?«
    Die Klasse schweigt.
    Dann hebt Janey Carlyle plötzlich die Hand.
    »Ja?«, sagt Officer Baker.
    »Also, ich habe gehört, er hat die Tollwut oder so«, sagt Janey. »Irgendjemand hat erzählt, er wäre von Mangy Masons Hunden gebissen worden.«
    »Nein, ein Waschbär war’s«, geht ein anderes Mädchen dazwischen.
    Das öffnet die Schleusen.
    »Ich hab gehört, es soll das West-Nil-Virus sein.«
    »Nein, Borreliose. Kriegt man von Zeckenbissen.«
    »Irgendein Superbazillus war’s. Der gegen Antibiotika resistent ist.«
    »Die haben ihn da in Quarantäne gepackt. Weil er so ansteckend ist.«
    Bakers finsterer Blick wird noch finsterer. »Das reicht jetzt! Herumspekulieren bringt uns nicht weiter. Er ist nicht ansteckend. Wir müssen ihn nur finden, bevor ihm etwas zustößt oder er erfriert. Also haltet die Augen offen. Wenn ihr was seht oder hört, meldet euch bei unserer Dienststelle in Barrie. Der Junge ist sehr krank, er muss dringend wieder ins Krankenhaus.«
    Er hält ein Blatt Papier mit dem Foto von Raymond hoch. »Die meisten von euch wissen sicher, wie Raymond aussieht,
aber ich lasse trotzdem ein paar Kopien da. Unsere Nummer steht ganz unten drauf.«
    Er wendet sich Miss Mercer zu, die sagt: »Danke, Officer. Wir werden natürlich die Augen offen halten.«
    Als der Bulle weg ist, lasse ich mich auf meinen Stuhl zurücksinken.
    Miss Mercer pinnt einen der Zettel ans Schwarze Brett. Ray Dyson. Wir haben ihn immer Raid genannt, nach dem Insektenspray. Der Name passt wie angegossen - der Typ ist echt giftig. Der totale Psychopath. Neben dem wirkt sogar Pike, als wäre er richtig im Kopf. Das letzte Mal hab ich Raid vor ein paar Tagen gesehen, als sie ihn ins Krankenhaus verfrachtet haben.
    An dem Tag, als er verrückt geworden ist.
    Ich döste gerade auf meinem Stuhl, während Miss Mercer irgendwas von Gletschern erzählte, die zum Ende der Eiszeit vor sich hinschmolzen. Wir steckten mitten in der dritten Woche der absoluten Killerkälteperiode, und mir kam es vor, als würde die Eiszeit ein wildes Comeback feiern.
    »Was zum Teufel ist das denn?«, platzte Pike heraus.
    Schnaubend wachte ich auf, genau wie der Rest der Klasse.
    »Achte auf deine Wortwahl!«, sagte Miss Mercer.
    Pike starrte aus dem Fenster.
    Mitten auf dem eisverkrusteten Innenfeld stand ein Typ in Unterwäsche. Keine Socken, kein Hemd. Nur Unterhose und nackte Haut.
    Miss Mercer spähte neben uns aus dem Fenster. »Gütiger Gott!« Dann rief sie uns zu, auf unseren Plätzen zu bleiben, und stürmte zur Tür.

    Natürlich bleib keiner von uns sitzen. Wir drängten uns vor den Fenstern und sahen zu, wie dieser Typ im grellweißen Feinripp seinen bleichen Leib den Bäumen und dem Schnee präsentierte.
    »Wer ist das?«, fragte Ash.
    »Ray Dyson«, murmelte Howie. »Raid.«
    Keine Ahnung, wie er ihn auf die Entfernung erkannt hatte, aber Howie weiß irgendwie immer die richtige Antwort.
    Man sollte meinen, Raid hätte sich wegen der Kälte die Arme um den Oberkörper geschlungen oder so, aber nein. Im Gegenteil, er hatte die Arme weit gespreizt, als würde er darauf warten, jemanden zu umarmen.
    Eine Minute später rannte Mr Cunningham, der Lehrer der neunten und zehnten Klasse, mit Miss Mercer auf den Fersen aufs Spielfeld hinaus. Mr Cunningham redete auf Raid ein, aber der stand nur da, die Arme ausgestreckt, als wollte er sich gleich fallen lassen und einen Schneeengel machen. Irgendwann schafften sie es dann, ihn wieder in die Schule hinein zu quatschen, und Miss Mercer sammelte seine Klamotten und seine Schuhe ein, die er sich ausgezogen hatte.
    Und das war das letzte Mal, dass wir Raid sahen. Je nachdem, wen man fragte, hieß es, er wäre von einem streunenden Hund gebissen worden, von einer Fledermaus, einem Waschbären, einem Kojoten oder einer Hirschzecke. Er wurde ins Krankenhaus gebracht, zur Beobachtung,

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