Knochenkälte
ständig winzige Eispickel ins Gehirn. Solange die Bestie sich da draußen rumtreibt, ist an Schlafen nicht zu denken.
Während ich gestern in Barrie war, um mit Howie Horrorstorys auszutauschen, war die Polizei hier. Howie ist mittlerweile wieder zu Hause und erholt sich. Dad hat den Bullen
die Hütten und das Eis drum herum gezeigt, und sie haben sich zusammen überlegt, warum es wohl gebrochen ist. Aber es ergibt alles keinen Sinn. Die Hütte ist immer noch fest verankert. Es ist ja nicht so, als wäre das ganze Ding ins Wasser gekracht. Die Eisoberfläche ist wieder zugefroren, von den Spuren der Verwüstung ist nichts mehr übrig. Das Angelloch, das Dad gemacht hatte, war absoluter Standard - ein normales, mit einer Bohrschnecke reingedrilltes Loch in der Größe eines Basketballs. Nichts, was irgendwie verdächtig wäre.
Die Wetterbedingungen sind seit Tagen frostig, das Eis solide dreißig Zentimeter dick, genug, um einen Kleinwagen aushalten zu können. Dad hat sogar ein Probeloch gebohrt, um die Dicke unter Beweis zu stellen. Seit Wintereinbruch hat es nicht getaut, und es gab auch keinen Regen, der die Eisoberfläche hätte schädigen können. Und nirgendwo Drucklinien, wo Eisplatten sich aufkanten könnten, wenn die Unterwasserströmungen stark genug sind.
An dem Tag, als Howie einbrach, war eine Handvoll Kids in voller Hockeymontur auf dem Eis gewesen, keinen Steinwurf von den Hütten entfernt, die hatten sich ein wildes Spiel geliefert.
Die Bullen nennen das, was Howie passiert ist, einen »unglücklichen Unfall«. Das Eis ist unberechenbar.
Niemand gibt Dad die Schuld. Außer er selbst.
Ein paarmal war ich ganz nah dran, ihm zu erzählen, was wirklich passiert ist. Aber egal wie gut ich es mir im Kopf zurechtzulegen versuche, ich kann mir nicht vorstellen, dass er mir die Geschichte glauben würde. Dad lebt zu hundert Prozent in der realen Welt.
Hab ich bis letzte Woche auch.
Ich drehe den Kopf auf dem Kissen und schaue zum Fenster hin. Die Scheibe ist mit Eis überzogen. Dad holt morgen den neuen Regler für den Heizkessel ab.
Er ist der Zaubermechaniker. Er kann alles in Ordnung bringen. So hat er damals Mom kennengelernt. Dad hatte als Ferienjobber in einer Autowerkstatt gearbeitet. Mom kam nach einem Unfall dahin, um den Blechschaden ausbügeln zu lassen. Da gingen beide noch auf die Highschool. Dad beulte die Schrammen wieder aus und lackierte die Kratzer über.
»Als ich mein Auto abholen wollte, hat er mich angebaggert«, hat Mom immer erzählt.
» Sie hat mich angebaggert«, lautete Dads Version.
Mom pflegte dazu nur die Augen zu verdrehen. »Ich hatte mir bei dem Unfall den kleinen Finger gebrochen, er war im Krankenhaus geschient worden. Da sagte dein Dad zu mir - das kann ich auch wieder in Ordnung bringen. Und plötzlich - schnapp - packte er meine Hand und drückte mir einen Kuss auf die Schiene.«
»Hey, der Laden bot eben einen Rundumservice an.«
»Ich sagte, der tut trotzdem noch weh. Und er meinte, die Behandlung müsste man täglich wiederholen, ich sollte am nächsten Tag wiederkommen. Ich sagte - kann ich jetzt meine Hand zurückhaben? Und er - kann ich mein Herz zurückhaben?«
Ich kann mir Dad beim Flirten und Charme-Versprühen kaum vorstellen. Aber das Ganze war noch in seiner prähistorischen Jugend, in seiner wilden Phase, die er zum Zeitpunkt meiner Geburt dann längst hinter sich hatte.
»Ab dem Tag«, erzählte er, »hat die Frau mich ständig belästigt. Immer wieder kam sie mit neuen Kratzern und Beulen im Auto an.«
»Ich war halt keine gute Fahrerin.«
»Und keine gute Lügnerin.«
Wie auch immer - das war jedenfalls ihre Kennenlerngeschichte.
Dad hat schon immer ein Händchen für Motoren und Geräte gehabt. Egal was er in die Finger kriegt, er kann es reparieren. Das Schlimmste für ihn ist, sich hilflos zu fühlen. So wie er es bei Mom war. Einfach warten und hilflos zuschauen zu müssen, wie sie leidet.
Ich seufze. Wenn ich nicht schleunigst aufhöre, daran zu denken, schlafe ich nie ein. Aber ich kann nur an die Decke starren und auf einmal drifte ich davon. Es ist, als würde eine starke Strömung durch meinen Kopf ziehen, mit einer mächtigen Unterströmung, die mich in die Tiefe zerrt.
Ich schließe die Augen zu einem langen Blinzeln.
Und öffne sie in die Dunkelheit.
Was zum...?
Ich bin nicht mehr in meinem Zimmer, sondern liege draußen unter einem mitternächtlichen, sternenbesprenkelten Himmel. Nach Luft schnappend, setze ich mich
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