Knochenkälte
nachher den Hackbraten warm«, ruft Dad mir nach. »Willst du auch was?«
»Du hast Hackbraten gemacht?«
»Nein, sie hat ihn gemacht.«
»Klingt gut.« Ich gehe weiter. »Aber ich muss mich erst mal kurz aufs Ohr hauen.«
Andrea gewinnt langsam an Boden. Echt komisch, jetzt da Dad endlich wieder Lebenszeichen von sich gibt, trage ich das Zeichen des Todes.
Gar nicht komisch.
Ich mache die Tür zu, reiße das Fenster auf und ziehe bis auf Boxershorts und T-Shirt alles aus.
Draußen verwandelt sich der Nachmittag in tiefblaue Nacht. Ich hole tief Luft, um meine Lunge zu kühlen.
So ist das eben.
Wenn man zu sehr versucht, einzuschlafen, klappt es nicht. Aber ich bin übermüdet bis hin zum Delirium.
Ich strecke mich auf der Decke aus. Das einzige Licht ist das leuchtende Blau des winterlichen Sonnenuntergangs. Blau wie der Lichtschein in der Höhle der Bestie.
Einatmen, ausatmen. Ich versuche, meinen Herzschlag zu verlangsamen, die Anspannung meiner Muskeln zu lösen.
Ich versuche es zehn Minuten lang. Liege ganz still. Atme entspannt. Und noch mal zehn Minuten.
Es klappt nicht. Ich bin halb tot vor Erschöpfung, aber mein Hirn will einfach nicht loslassen, sich nicht in die Schwärze stürzen. Vielleicht weil es weiß, was uns erwartet, wenn ich schlafe.
Ich gebe auf und öffne die Augen...
Und sehe mein Spiegelbild an der Decke über mir. Ich schnappe nach Luft. Die wasserfleckige Decke ist plötzlich eine spiegelnde Oberfläche. Ich setze mich auf und blinzele verwirrt. Der ganze Raum ist verspiegelt - Wände, Boden, selbst meine Zimmertür.
Ich schwinge die Beine über die Bettkante. Mein Schreibtisch, die Lampe, der Stapel Schulbücher - alles hat eine metallisch schimmernde Oberfläche. Auch das Bett unter mir. Als ich über die Laken streiche, trifft meine Hand auf die Reflexion ihrer selbst. Fast erwarte ich, dass das Laken sich zerknüllen lässt wie Alufolie. Aber es fühlt sich genauso glatt und weich an wie immer.
Jede Bewegung, die ich mache, wird von tausend Glanzoberflächen im Raum widergespiegelt.
Ich bin in einem Traum. Auf dem Territorium der Bestie.
Und jetzt fällt mir auch ein, warum. Ich bin wegen Howie gekommen.
Schnell, beweg dich! Bevor es deine Witterung aufnimmt. Wenn es das nicht schon getan hat.
Ich sehe aus dem Fenster. Die Welt da draußen ist immer noch im blauen Zwielicht gefangen. Die Bucht sieht aus wie immer. Schnee und Eis und Baumskelette.
Ich wappne mich mit einem Schluck eiskalter Luft. Dann rufe ich: »Howie!« Meine Stimme trägt über die nackte Landschaft. Keine Antwort. Die Landschaft meines Traums ist steif und leblos wie eine Schneekugel, die niemand geschüttelt hat.
Er muss doch hier sein. Wir haben uns schon mal einen Albtraum geteilt und ich habe ihn gefunden. Also kann ich ihn auch noch mal finden.
Hoffe ich.
Ich ziehe meinen Kopf zurück und lausche angestrengt. Ein kaum hörbares Geräusch huscht herum, wie ein Luftstrom, der durchs Haus zieht. Aber dann ist da noch mehr...
Geflüster. Von jenseits meiner Zimmertür.
Ich gehe hin und konzentriere den Blick dabei auf den Türknauf, um nicht von der Vielzahl der Spiegelbilder abgelenkt zu werden, die von allen Seiten auf mich eindringen, jede meiner Bewegungen nachäffend. Spiegelungen von Spiegelungen von Spiegelungen.
Als ich die Tür aufmache, blicke ich auf einen verspiegelten Flur, der vom Winterblau erhellt wird. Das Flüstern wird lauter. Zu viele Stimme, die alle auf einmal sprechen.
»Howie!«
Nichts.
»Ich bin’s, Danny.«
Ich mache einen Schritt in den Flur hinein und begehe den Fehler, nach unten zu sehen. Der Boden scheint unter meinen Füßen aufzuklaffen, bis in alle Tiefe, und nur mein eigenes Spiegelbild stützt mich.
Ich hebe meinen nackten linken Fuß zum nächsten Schritt an und sehe, wie der Zwilling meiner Sohle sich ebenfalls in Bewegung setzt. Der verrückte Gedanke streift mich, dass ich nicht abstürzen kann, solange ich nur die spiegelverkehrten Rückseiten meiner Füße habe, auf die ich treten kann.
Mit Minischritten gehe ich weiter. Die Flüsterstimmen werden lauter und leiser, als würden sie das Haus durchwandern. Durchsuchen.
»Howie!«
Das Raunen verstummt. Man hat mich gehört. Da trifft mich eine Erkenntnis: Vielleicht bin ich es ja, den die Stimmen suchen.
Ich sehe von meinem merkwürdigen Balanceakt auf. Dampf dringt durch die offene Tür des Badezimmers ein Stück vor mir. Ich spähe hinein. Das Kondenswasser hat die silbrigen Wände
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