Knochenkälte
beschlagen und da sind Buchstaben in den Dampf geschrieben.
DANNYBOY DANNYBOY DANNYBOY DANNYBOY DANNYBOY.
Immer und immer wieder, in endlosen Reihen, die vom Boden bis zur Decke reichen.
Danny Boy - so hat Mom mich genannt.
Ich vergesse zu atmen. Die Bestie hat mein Gedächtnis seziert, um herauszufinden, wo es am meisten wehtut.
Ich zwinge mich, den Blick abzuwenden.
Aber es gibt keine Stelle, an der mir nicht mein eigenes Spiegelbild, verzerrt und mit verzweifelt aufgerissenen Augen, entgegenspringen würde. Die Spiegel sind wie die Augen des Monsters. Wenn ich zu lange hineinschaue oder zu lange hierbleibe, werden sie mich verschlingen.
Konzentrier dich!
Die Totenstille ist wie elektrische Spannung, wie der Lidschlag zwischen Blitz und Donner.
Wo würde ich mich an Howies Stelle verstecken? Er hat sich sein halbes Leben im Verstecken geübt, er ist einfach zu gut darin. Ich werde ihn nur finden können, wenn er von selber zu mir kommt.
»Howie!«
Als ich das Wohnzimmer betrete, tricksen mich die silbrigen Oberflächen aus. Mein Vielfachspiegelbild umkreist mich.
Da! Da hat sich doch eben was in der Ecke bewegt! Ich wirbele herum - da ist ein Mädchen, dreizehn Jahre alt vielleicht, in einem rosa Schlafanzug. Sie steht vornübergebeugt, die Arme um den Oberkörper geschlungen. Ihr Blick versinkt in meinen Augen, ihre Lippen bewegen sich, aber ich verstehe nicht, was sie sagt. Flüsterstimmen.
Ich gehe näher ran, die Ohren gespitzt. Da erkenne ich auf einmal, dass sie in der Wand steht. Ich sehe mein Spiegelbild hinter ihr. Da sind zwei Exemplare von mir, aber nur eins von ihr. Sie ist in der Wand gefangen.
Ihre Lippen bewegen sich wieder, aber ihre Stimme ist kaum hörbar: »Zeig ihn mir. Zeig mir den Weg hinaus.«
Und sie streckt mir ihre Hand entgegen, als müsste ich sie ergreifen und sie nach draußen führen.
Unwillkürlich weiche ich zurück, aus Angst, was passiert, wenn sie mich berührt.
Sie ist eine von ihnen . Den Vermissten.
»Zeig ihn mir.«
»Ich... ich kann nicht.«
Dann fällt mir wieder eine Bewegung ins Auge. Zu meiner Linken stehen zwei Jungs aneinandergelehnt und starren von jenseits der silbrigen Vorhänge zu mir heraus. Sie kommen mir bekannt vor. Wo hab ich sie schon mal gesehen? Da fällt es mir wieder ein: im Examiner, da waren ihre Fotos abgebildet. Zwei Brüder, die vor einem halben Jahrhundert verschwunden sind.
»Nimm uns mit«, dröhnt die Stimme des Älteren wie aus großer Tiefe durch den Raum, bricht sich an den Spiegelwänden.
Immer mehr Teenager rauschen entlang der Wände herein. Ich zucke zusammen, als ein indianisches Mädchen unter meinen Füßen auftaucht und zu mir heraufstarrt, als sei es in einem Glasdeckelsarg gefangen. Sie trägt ein Gewand aus Tierfell und spricht in einer unbekannten Sprache, die Ashs Ojibwa ähnelt.
Die Geistergestalten stürmen den Raum. Zu Dutzenden reden sie auf mich ein, flehen mich verzweifelt an...
Hol mich hier raus. Rette mich. Zeig mir den Weg.
Es sind so viele. Und immer noch schwillt die Menge an.
Sie schieben und schubsen einander weg, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
Sie wollen, dass ich sie hier rausbringe. Howie hat gesagt, sie wüssten nicht, dass sie tot sind. Howie hat immer noch einen lebenden, atmenden Körper, in den er zurückkehren kann. Aber auf diese verlorenen Seelen wartet da draußen nichts mehr außer einem Knochenhaufen.
Ich taumele durch den Raum, habe Angst, dass Hände nach meinen Fußknöcheln greifen und mich in die Tiefe zerren könnten. Ich ducke mich unter den Gestalten weg, die wie sturzfliegende Fledermäuse von oben auf mich zuhalten.
»Danny?«
Wie vom Blitz getroffen, bleibe ich stehen.
»Hier drüben, Danny.«
Ich folge der Stimme bis in eine Ecke. Howie kauert ganz tief unten, die Knie zur Brust gezogen. Er macht sich so klein wie möglich, um nicht zerquetscht zu werden. Er trägt den Schlafanzug aus dem Krankenhaus.
Ich renne zu ihm hin, ohne mehr auf die anderen zu achten.
»Howie! Ich bin hier, um dich rauszuholen. Lass uns gehen.« Ich beuge mich zu ihm runter.
»Geht nicht«, sagt er von jenseits des Spiegels. »Ich stecke hier drin fest.«
»Das ist nur ein Traum.«
Er schüttelt den Kopf. »Nein, es ist mehr als das. Hier... hier hält die Bestie sie alle gefangen.«
Die anderen bedrängen uns, aber Howie sieht mir weiterhin in die Augen.
»Vergiss die anderen«, sage ich. »Konzentrier dich nur auf mich. Denk nach! Setz dein Gehirn ein. Was...
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