Knochenlese: 5. Fall mit Tempe Brennan
Für mich waren sie mehr. Sehr viel mehr.
Ich stand auf.
»Es wird langsam spät, Mr. Nordstern. Ich habe noch zu arbeiten.«
»Chupan Ya oder der Faultank?«
Ich verließ wortlos das Zimmer.
8
Die Entstehung eines Babys ist eine komplexe Operation, die mit militärischer Präzision durchgeführt wird. Die Chromosomen bilden die Kommandozentrale, und Arbeitsgene erhalten Befehle von Kontrollgenen, die wiederum höherrangigen Kontrollgenen unterstehen.
Zunächst ist der Embryo eine undifferenzierte Masse. Ein Befehl wird ausgegeben.
Wirbeltier!
Segmentierte Knochen bilden eine Wirbelsäule und Extremitäten mit Gelenken und je fünf Endgliedern. Einen Schädel. Einen echten Unterkiefer.
Der Embryo ist ein Flussbarsch. Ein Waldfrosch. Ein Gecko.
Die Doppelhelix-Generäle erhöhen den Einsatz.
Säugetier!
Warmblüter, lebend gebärend, mit unterschiedlich geformten Zähnen.
Der Embryo ist ein Schnabeltier. Ein Känguru. Ein Schneeleopard. Elvis.
Die Generäle machen noch mehr Druck.
Primat!
Gegenüberstellung des Daumens, dreidimensionales Sehvermögen.
Noch mehr Druck.
Homo sapiens!
Das menschliche Skelett beginnt in der siebten Woche, sich zu verknöchern. Zwischen der neunten und der zwölften bilden sich winzige Zahnknospen.
Ich hatte auf den Tatortfotos vier Schädelelemente identifiziert.
Das Keilbein ist ein schmetterlingsförmiger Knochen, der mit den Augenhöhlen und der Schädelbasis verbunden ist. Die großen Flügel entwickeln sich in der achten fötalen Woche, das kleine Paar folgt eine Woche später.
Mit Mikroskop und skaliertem Gitternetz maß ich Länge und Breite. Mit Hilfe eines Lineals zur Maßstabsbestimmung berechnete ich die tatsächliche Größe. Größerer Flügel: fünfzehn mal sieben Millimeter. Kleinerer Flügel: sechs mal fünf Millimeter.
Das Schläfenbein ist ebenfalls in verschiedene Knochen untergliedert. Der flache Teil, der die Schläfe und den seitlichen Abschnitt des Wangenknochens bildet, erscheint in der achten fötalen Woche. Dieser maß zehn mal achtzehn Millimeter.
Der Paukenbogen entwickelt sich ungefähr in der neunten Woche und wächst in den folgenden einundzwanzig Tagen zu drei Knochensplittern heran. Etwa in der sechzehnten Woche vereinigen sich die Splitter zu einem Ring. Kurz bevor das Baby Hotel Uterus verlässt, verbindet sich der Ring mit dem Innenohr.
Der erste seltsame Partikel, den ich auf dem Beckenfoto gesehen hatte, war ein winziger Paukenbogen. Obwohl ich noch Verschmelzungslinien erkennen konnte, waren die drei Segmente doch fest miteinander verbunden. Das Lineal deutete darauf hin, dass ich den Bogen direkt von oben sah. Ich maß den Durchmesser, rechnete hoch und fügte die Zahl meiner Liste hinzu. Acht Millimeter.
Dann wandte ich mich meinem Röhrchen zu.
Ein winziger halber Unterkiefer mit Vertiefungen, die nie Zähne enthalten würden. Fünfundzwanzig Millimeter.
Ein Schlüsselbein. Einundzwanzig Millimeter.
Anhand der Tabellen im Handbuch der fötalen Osteologie überprüfte ich jedes Maß. Größerer Flügel des Keilbeins. Kleinerer Flügel des Keilbeins. Schläfenbeinschuppe. Paukenring. Unterkieferknochen. Schlüsselbein.
Nach Fazekas und Kósa war das Mädchen aus dem Faultank im fünften Monat schwanger gewesen.
Ich schloss die Augen. Das Baby war zwischen fünfzehn und dreiundzwanzig Zentimeter lang gewesen und hatte knapp zweihundertdreißig Gramm gewogen, als seine Mutter getötet wurde. Es konnte blinzeln, greifen, saugen. Es hatte Wimpern und Fingerabdrücke und konnte Moms Stimme hören und erkennen. Falls es ein Mädchen war, hatte es sechs Millionen Eier in seinen winzigen Eierstöcken.
Ich war überwältigt von Traurigkeit, als Elena mir von der Tür aus etwas zurief.
»Da ist ein Anruf für dich.«
Ich wollte mit keinem Menschen reden.
»Ein Detective Galiano. Kannst ihn in Mateos Büro entgegennehmen.«
Ich dankte Elena, verschloss die Beweisstücke im Röhrchen und stieg wieder in den zweiten Stock.
»Fünfter Monat«, sagte ich, ohne mich lange mit einer Einleitung abzugeben.
Er brauchte keine Erklärung.
»Ungefähr die Zeit, zu der sie Papa reinen Wein eingeschenkt haben dürfte.«
»Ihrem eigenen oder dem Spender des glücklichen Samens?«
»Oder Nichtspender.«
»Eifersüchtiger Freund?«, fragte ich.
»Wütender Zuhälter?«
»Psychopathischer Fremder? Die Möglichkeiten sind endlos. Deshalb braucht die Welt Detectives.«
»Ich habe mich heute Vormittag als solcher betätigt.«
Ich
Weitere Kostenlose Bücher