Knochenlese: 5. Fall mit Tempe Brennan
auszulassen.«
»Superreporter.« Ich schnippte ein Staubkorn von meinem Hosenbein. »Die Knochen im Faultank?«
»Nein.«
»Okay. Eine halbe Stunde.«
»Vielleicht genießt du es ja.«
Wie Geschwüre, dachte ich.
»Erzähl mir von dem Faultankfall.«
»Was ist mit unserem Bluthund da unten?«
»Der kann warten.«
Ich erzählte ihm, was ich im Hauptquartier erfahren hatte, und ließ nur Chantale Specters Familiennamen aus.
»André Specter, der kanadische Botschafter. Heftig.«
»Du weißt Bescheid?«
»Detective Galiano hat es mir gesagt. Deshalb habe ich ja zugelassen, dass er dich am Tag unserer Rückkehr aus Chupan Ya überfällt.«
Ich ärgerte mich nicht darüber. In Wahrheit war ich sogar erleichtert, dass Mateo wusste, was für ein heikles Unternehmen mir in den nächsten Tagen bevorstehen würde.
Ich zog das Röhrchen aus meinem Rucksack und legte es auf den Tisch. Er las das Etikett, betrachtete den Inhalt und sah dann mich an.
»Fötal?«
Ich nickte. »Ich hatte auf einigen Fotos Schädelfragmente entdeckt.«
»Alter?«
»Das muss ich bei Fazekas und Kósa nachschlagen.«
Ich meinte damit ein Buch mit dem Titel Forensische fötale Osteologie, die Bibel der Anthropologen in Bezug auf pränatale Skelettentwicklung. Da die Arbeit 1978 in Ungarn veröffentlicht worden und längst vergriffen war, wurden Exemplare von den Glücklichen, die eins besaßen, eifersüchtig gehütet.
»Wir haben ein Exemplar in unserer Sammlung.«
»Fertig mit dem Mikroskop?«
»Fast.« Er stand auf. »Bis du Nordstern hinter dir hast, bin ich durch.«
Ich verdrehte die Augen so stark, dass ich schon fürchtete, sie würden den Stirnlappen berühren.
»Ich habe Sie gestern vermisst.«
»Hmhm.«
»Señor Reyes sagte, Sie würden bis Sonntag beschäftigt sein.«
»Wir haben dreißig Minuten, Sir. Womit kann ich Ihnen helfen?«
Ich hatte an Mateos Schreibtisch die Seiten gewechselt, und Nordstern saß jetzt, wo ich gesessen hatte.
»Gut.« Er zog einen winzigen Kassettenrekorder aus der Tasche und schwenkte ihn. »Haben Sie was dagegen?«
Ich schaute auf die Uhr, während er an Knöpfen drehte.
»Okay«, sagte er und lehnte sich zurück. »Erzählen Sie mir, was da unten los war.«
Die Frage überraschte mich.
»Haben Sie das denn nicht schon mit Elena besprochen?«
»Ich sammle gern mehrere Perspektiven.«
»Es ist doch dokumentierte Geschichte.«
Er hob die Schultern, die Hände und die Augenbrauen.
»Wie weit wollen Sie zurückgehen?«
Dieselbe ärgerliche Geste noch einmal.
Okay, Arschloch. Der Grundkurs in Menschenrechtsverletzungen.
»Von den Sechzigern bis zu den Neunzigern wurden viele lateinamerikanische Länder von Wellen der Gewalt und der Unterdrückung erfasst. Die Menschenrechte wurden mit Füßen getreten, wobei die meisten Gräueltaten von den herrschenden Militärregierungen begangen wurden.
In den Achtzigern gab es eine Wende in Richtung Demokratie. Und damit kam der Wunsch, die Menschenrechtsverletzungen der jüngsten Vergangenheit zu untersuchen. In einigen Ländern führten diese Ermittlungen zu Verurteilungen. In anderen konnten die Schuldigen dank diverser Amnestieerklärungen einer Verfolgung entgehen. Es zeigte sich, dass Ermittler aus dem Ausland nötig waren, um die Wahrheit wirklich ans Licht zu bringen.«
Nordstern saß da wie ein Student, den nicht interessierte, was sein Lehrer ihm erzählte. Ich wurde etwas konkreter.
»Argentinien ist ein gutes Beispiel. Als Argentinien dreiundachtzig zur Demokratie zurückkehrte, stellte die Nationale Kommission für das Verschwinden von Menschen, CONADEP, fest, dass während des vorherigen Militärregimes fast neuntausend Menschen ›verschwunden‹ waren, wobei der Großteil von Sicherheitskräften entführt, in illegale Verwahrungszentren verschleppt, gefoltert und getötet wurde. Die Leichen wurden entweder aus Flugzeugen in die Argentinische See geworfen oder in anonymen Gräbern verscharrt.
Richter begannen Exhumierungen anzuordnen, aber die verantwortlichen Ärzte hatten wenig Erfahrung mit skelettierten Überresten und keine Ausbildung in Archäologie. Bulldozer rückten an, Knochen wurden zerbrochen, verloren, vermischt und liegen gelassen. Kein Wunder also, dass der Identifikationsprozess nicht sonderlich erfolgreich war.«
Ich präsentierte ihm die ultrakondensierte Version.
»Außerdem waren viele dieser Ärzte selbst in die Gemetzel verwickelt gewesen, entweder durch Unterlassung oder aktive
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