Knochenlese: 5. Fall mit Tempe Brennan
fast nie sind.«
Noch zwei Abdrücke. Bäume huschten an den Seitenfenstern vorbei. Wir bogen einige Male ab und kamen dann in eine Straße mit großen Wohnhäusern weit hinten auf großen und professionell gepflegten Grundstücken. Meistens waren nur die Ziegeldächer zu sehen.
»In einem Punkt könnte Gerardi allerdings Recht gehabt haben.«
»In welchem?«
»Chantale Specter.«
Der Botschafter und seine Familie lebten hinter einer Hecke, die genauso aussah wie die um das Grundstück der Gerardis. Zusätzlich lebten sie hinter einem Elektrozaun mit einem mächtigen schmiedeeisernen Tor und einem dazu passenden Paar uniformierter Wachen.
Galiano bog in die Auffahrt ein und hielt für Wache Nummer eins seine Marke ans Fenster. Der Mann bückte sich zur Scheibe und ging dann zu einer Kontrollkonsole. Sekunden später schwangen die Torflügel nach innen.
Wir fuhren in weitem Bogen zur Vorderseite des Hauses, wo Wache Nummer zwei unsere Ausweise kontrollierte. Danach klingelte er. Die Tür ging auf, und die Wache übergab uns einem Hausbediensteten.
»Mrs. Specter erwartet Sie.« Der Mann sah uns an, ohne uns zu sehen. »Bitte folgen Sie mir.«
Die Szenerie schien nach dem Besuch bei Gerardis wie ein Déjà vu. Holzgetäfeltes Arbeitszimmer, teurer Fliesenboden, erlesene Möbel und Kunstgegenstände. Der Teppich war diesmal ein Bakhtiari.
Die Begegnung hätte unterschiedlicher nicht sein können.
Mrs. Specters Haare waren kupferfarben, Lippen und Nägel chinesisch rot. Sie trug einen dreiteiligen seidenen Hosenanzug in der Farbe von Sonnenblumen und passende Sandalen an den Füßen. Der zarte Stoff umfloss sie, als sie zur Begrüßung auf uns zukam. Ebenso eine Wolke Issey Miyaki.
»Detective Galiano, es ist immer eine Freude, Sie zu sehen.« Französischer Akzent. »Wobei es mir unter anderen Umständen natürlich noch lieber wäre.«
»Wie geht es Ihnen heute, Mrs. Specter?« In Galianos brauner Hand sahen ihre Finger gespenstisch bleich aus.
»Mir geht es gut.« Sie wandte ihr Lächeln mir zu. Ein gekünsteltes Lächeln. »Ist das die junge Frau, von der Sie mir erzählt haben?«
»Tempe Brennan«, stellte ich mich vor.
Die chinaroten Nägel schossen vor. Ihre Haut war so weich, ihre Knochen so zart, dass es sich anfühlte, als würde ich einem Kind die Hand schütteln.
»Vielen herzlichen Dank, dass Sie sich den örtlichen Behörden zur Verfügung gestellt haben. Das bedeutet meinem Gatten und mir sehr viel.«
»Ich hoffe, ich kann helfen.«
»Bitte verzeihen Sie mir meine abscheulichen Manieren.« Sie legte eine Hand an die Brust und deutete mit der andern. »Bitte. Setzen wir uns doch.«
Sie führte uns zu einer Sitzecke in einer Nische auf der rechten Seite des Zimmers. Jedes Fenster war mit drei Zoll dicken Läden verschlossen, die Lamellen sperrten die Morgensonne aus.
»Möchten Sie Tee oder Kaffee?«
Wir lehnten beide ab.
»Nun, Detective. Bitte sagen Sie mir, dass Sie gute Nachrichten haben.«
»Ich fürchte nicht.« Galianos Stimme klang sanft.
Die Farbe wich aus ihrem Gesicht. Das Lächeln zuckte, hielt aber.
»Aber auch keine schlechten«, fügte er schnell hinzu. »Ich wollte mich nur mal wieder melden, ein paar Fakten überprüfen und hören, ob Ihnen seit unserem letzten Gespräch noch etwas eingefallen ist.«
Sie ließ die Hand von der Brust auf die Armstütze sinken und lehnte sich in ihrem Sessel zurück.
»Ich habe mich bemüht, das habe ich wirklich, aber außer dem, was ich Ihnen erzählt habe, ist mir nichts eingefallen.«
Obwohl sie sich sehr bemühte, verschwand ihr Lächeln nun. Sie begann, an einem von mehreren losen Fäden in der Polsterung neben ihrem Knie zu zupfen.
»Nachts liege ich wach und lasse dieses letzte Jahr Revue passieren. Ich – es fällt mir schwer, das zu sagen. Aber offensichtlich habe ich vieles übersehen, was vor meinen Augen passiert ist.«
»Chantale trieb es ziemlich wild.« Sein Tonfall war eine Galaxie von dem bei Gerardi entfernt. »Wie Sie gesagt hatten, war sie zu Ihnen und Ihrem Gatten alles andere als offen.«
»Ich hätte aufmerksamer sein sollen. Scharfsichtiger.«
Ihr Gesicht sah in dem Kranz orangefarbener Haare totenblass aus. Ein lackierter Nagel malträtierte wie ferngesteuert den losen Faden.
Sie tat mir Leid, und ich suchte nach tröstenden Worten.
»Geben Sie sich nicht selbst die Schuld, Mrs. Specter. Keiner von uns kann seine Kinder völlig kontrollieren.«
Ihre Augen wanderten von Galiano zu mir. Trotz des
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