Knochenlese: 5. Fall mit Tempe Brennan
hier einen runterholen will, und ist deshalb auf Distanz geblieben.«
»Klingt er verlässlich?«
Hernández zuckte die Achseln. »Ist wahrscheinlich selber ein Pimmelzupfer. Wie würde er sonst auf so einen Gedanken kommen? Auf jeden Fall erinnert er sich, dass es ein altes Auto war. Vielleicht ein Toyota oder ein Honda. Er ist sich nicht ganz sicher. Hat das Ganze von seiner Veranda aus beobachtet, konnte also nicht allzu gut sehen und hat auch das Nummernschild nicht erkannt.«
»Habt ihr irgendwelche persönlichen Habseligkeiten gefunden?«
Hernández schüttelte den Kopf. »Wie bei der Kleinen im Faultank. Die Kleidung ist noch am Opfer, aber sonst nichts. Der Täter hat die Leiche von der Straße aus abgeladen, es kann also sein, dass er noch etwas in die barranca geworfen hat. Xicay und ich gehen runter, wenn wir hier fertig sind.«
Galiano schaute kritisch zu der Meute hinter der Absperrung hoch.
»Nichts, und ich meine absolut nichts zur Presse, bevor ich mit der Familie gesprochen habe.«
Dann wandte er sich mir zu.
»Was wollen Sie hier tun?«
Auf jeden Fall wollte ich meinen Patzer am Paraíso nicht wiederholen.
»Ich brauche einen Leichensack und ein paar Stunden.«
»Nehmen Sie sich Zeit.«
»Aber nicht zu viel«, sagte ich, und Selbstvorwürfe schärften meinen Tonfall.
»Nehmen Sie sich die Zeit, die Sie brauchen.«
Ich hörte in seiner Stimme, dass Díaz mich in diesem Fall nicht belästigen würde.
Ich holte Gummihandschuhe aus meinem Rucksack, ging zum Ende des Plateaus, sank auf alle viere und fing an, den Graben entlangzukriechen und Blätter und Erde mit den Fingern zu beharken. Wie beim Paraíso folgte Xicay mir mit seiner Nikon.
Der Schädel lag knappe zwei Meter vom Hals der Leiche entfernt. Offensichtlich hatten Aasfresser ihn geschubst oder gezerrt, bis sie das Interesse verloren hatten. Neben dem Schädel ein Büschel Haare. Sechzig Zentimeter hinter den Haaren führten verstreute Fingerglieder zu einer Ansammlung von Handknochen.
Als Xicay die Knochen fotografiert und ich die exakte Lage notiert hatte, trug ich die verstreuten Teile zum Hauptfundort zurück, schloss die Untersuchung des Grabens ab und ging dann das Plateau in einem Gittermuster ab. Dann ging ich es noch einmal ab, wobei das zweite Gitter diametral über dem ersten lag.
Nichts.
Ich kehrte zum Skelett zurück, zog eine Taschenlampe aus meinem Rucksack und ließ den Strahl über die Knochen wandern. Hernández hatte Recht. Nach zehn Monaten war es unwahrscheinlich, dass ich noch verwertbare Spuren finden würde, aber ich hoffte, dass das Plastik vielleicht einen gewissen Schutz geboten hatte, bis es von Tieren zerrissen wurde.
Ich entdeckte rein gar nichts.
Obwohl die Bergung von Spuren hoffnungslos schien, achtete ich doch darauf, direkt auf dem Plastik zu arbeiten. Wenn Fragmente, Haare oder Fasern vorhanden waren, würden wir sie im Labor finden.
Ich legte die Taschenlampe beiseite und drehte das Skelett vorsichtig auf den Rücken. Käfer und Tausendfüßler huschten in alle Richtungen. Über mir klickte Xicays Kamera.
In einem Klima wie im guatemaltekischen Hochland kann eine Leiche in wenigen Monaten oder sogar Wochen skelettiert werden, je nachdem, wie leicht sie für Insekten und Aasfresser zugänglich ist. Wenn der Kadaver dicht verpackt ist, kann die Verwesung deutlich verlangsamt werden. Muskel- und Bindegewebe kann sogar mumifiziert werden. Das war auch hier der Fall. Die Knochen waren noch relativ solide miteinander verbunden.
Ich betrachtete die verschrumpelte Leiche und dachte an die Fotos der achtzehnjährigen Claudia de la Alda. Meine Backenzähne knirschten.
Diesmal nicht, Díaz. Nicht diesmal.
Ich verlagerte wieder und wieder mein Gewicht, um in einer bequemeren Haltung zu knien, während ich das untersuchte, was einmal der Kopf der Leiche gewesen war. Dann arbeitete ich mich, ganz in meine Aufgabe versunken, Zentimeter um Zentimeter bis zu den Zehen vor. Die Zeit verging. Andere kamen und gingen. Meine Knie und der Rücken schmerzten. Augen und Haut juckten vor Pollen, Staub und herumschwirrenden Insekten.
Irgendwann merkte ich, dass Galiano gegangen war. Xicay und Colom dehnten ihre Suche auf den Grund der Schlucht aus. Ich arbeitete allein weiter, hörte hin und wieder eine gedämpfte Unterhaltung, Vogelgezwitscher, eine Frage, die von oben heruntergerufen wurde.
Zwei Stunden später lagen die Überreste, das Plastik, die Haare und die Kleidung in einem Leichensack. Das
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