Knochenlese: 5. Fall mit Tempe Brennan
Kruzifix hatte ich in einen Klarsichtbeutel gesteckt. Mein Inventarformular sagte mir, dass nur fünf Fingerknochen und zwei Zähne fehlten.
Diesmal hatte ich nicht nur die Knochen identifiziert und in rechts und links unterschieden. Ich hatte mir alle Teile des Skeletts lange und eingehend angesehen.
Die Überreste gehörten einer jungen Frau knapp unter oder über zwanzig. Gesichts- und Schädelmerkmale deuteten auf mongoloide Abstammung hin. Sie hatte einen gut verheilten Bruch der rechten Speiche und Füllungen in vier ihrer Backenzähne.
Nicht feststellen konnte ich, was ihr zugestoßen war. Meine Voruntersuchung ergab keine Schusswunden, keine frischen Frakturen, keine Verletzungen durch stumpfe oder scharfe Gegenstände.
Galiano war zurückgekehrt.
»Passt zum Profil.«
»Was ist mit ihr passiert?«
»Keine Schläge. Keine Schnitte. Keine Kugeln. Keine Würgemale. Irgendwelche Ideen?«
»Zungenbein?«
Galiano meinte einen hufeisenförmigen Knochen im Bindegewebe an der Vorderseite der Kehle. Bei älteren Opfern kann das Zungenbein bei einer Strangulierung brechen.
»Intakt. Aber bei einem so jungen Opfer sagt das nichts aus.«
So jung. Wie die Kleine im Faultank. Ich sah in Galianos Augen etwas flackern und wusste, dass er dasselbe dachte.
Ich versuchte aufzustehen. Mein Knie protestierte, und ich taumelte nach vorne. Galiano fing mich auf, als ich gegen ihn fiel.
Einen Herzschlag lang rührte sich keiner von uns. Meine Wange fühlte sich heiß an seiner Brust an.
Überrascht trat ich zurück und konzentrierte mich aufs Ausziehen der Handschuhe. Ich spürte Guernsey-Augen auf meinem Gesicht, sah aber nicht hoch.
»Hat Hernández noch etwas erfahren?«
»Kein Mensch hat irgendwas gehört oder gesehen.«
»Haben Sie de la Aldas zahnärztliche Unterlagen?«
»Ja.«
»Dann sollte das eine problemlose dentale Identifikation werden.«
Ich schaute kurz zu Galiano hoch, dann wieder auf die Handschuhe. Hatte die Umarmung wirklich länger gedauert als eigentlich nötig, oder bildete ich mir das nur ein?
»Sind Sie hier fertig?«, fragte er.
»Bis aufs Graben und Sieben.«
Galiano schaute auf seine Uhr. Mit Pawlow’scher Promptheit schaute ich auf meine. Zehn nach fünf.
»Wollen Sie morgen damit anfangen?«, fragte er.
»Ich werde das hier fertig machen. Wenn da irgendwo ein kranker Mistkerl herumläuft, der jungen Frauen auflauert, dann könnte er sich jetzt in diesem Augenblick ein neues Opfer aussuchen.«
»Ja.«
»Und je mehr Leute hier herumtrampeln, desto unbrauchbarer wird der Tatort.«
Der Name Díaz musste nicht erwähnt werden.
»Und Sie haben die Meute da oben ja gesehen. Die Geschichte wird einschlagen wie ein Blitz.«
Ich schob die Handschuhe in den Leichensack.
»Das Transport-Team kann die Leiche abholen. Aber sorgen Sie dafür, dass sie den Sack festzurren.«
»Ja, Ma’am.«
Grinste der Mistkerl etwa? Oder bildete ich mir das auch nur ein?
Colom, Xicay und ich brachten die nächste Stunde damit zu, eine fünfzehn Zentimeter tiefe Schicht des Geländes, in dem die Leiche gelegen hatte, abzutragen und durchzusieben. Im Sieb blieben beide fehlenden Zähne, drei Fingerknochen, mehrere Finger- und Zehennägel und ein goldener Ohrring hängen.
Als Galiano zurückkehrte, zeigte ich ihm den Ohrstecker.
»Was ist das?«
»Was wir einen Hinweis nennen.« Ich klang wie Fredi Minos.
»De la Aldas?«
»Das ist eine Frage für die Familie.«
»Auf keinem der Fotos trug sie Schmuck.«
»Stimmt.«
Galiano steckte sich das Tütchen in die Tasche.
Die Nacht brach eben herein, als wir zum Rand hochkletterten und auf die Straße traten. Die TV-Transporter waren verschwunden, denn die obligatorischen Leichensack-Szenen hatten sie sicher im Kasten. Ein paar Reporter standen noch herum und warteten auf eine Erklärung.
»Wie viele, Galiano?«
»Ist es eine Frau? Wurde sie vergewaltigt?«
»Kein Kommentar.«
Als ich in Galianos Auto einstieg, knipste mich eine Frau mit einer ihrer drei Kameras, die ihr um den Hals hingen.
Ich verriegelte die Tür, legte den Kopf an die Nackenstütze und schloss die Augen. Galiano stieg ein und ließ den Motor an. Ich hörte ein Klopfen an meinem Fenster, ignorierte es aber.
Galiano schaltete in den Rückwärtsgang. Dann legte er den Arm um meinen Sitz, drehte den Kopf und schoss nach hinten. Als er sich wieder umdrehte, berührten seine Finger meinen Hals.
Meine Haut kribbelte.
Ich riss die Augen auf.
Mein Gott, Brennan. Eine junge Frau ist
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