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Knochenlese: 5. Fall mit Tempe Brennan

Knochenlese: 5. Fall mit Tempe Brennan

Titel: Knochenlese: 5. Fall mit Tempe Brennan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathy Reichs
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Komiker.«
    »Leichenhallennummer?«
    Ich las sie laut von dem Formular ab.
    »Raum vier?«
    »Bitte.«
    Sie verschwand durch eine Doppeltür. Dahinter lag eine von fünf Lagerkammern, jede unterteilt in vierzehn Kühlfächer mit Edelstahltüren. Kleine weiße Karten bedeuteten belegt. Rote Aufkleber warnten vor HIV-positivem Status. Die Leichenhallennummer sagte Lisa, hinter welcher Tür der Torso lag.
    Ich ging in Raum vier, der mit einem zusätzlichen Belüftungssystem ausgestattet war. Der Raum für Wasserleichen und Verfaulte. Der Raum für Verkohlte. Der Raum, in dem ich normalerweise arbeitete.
    Ich hatte mir kaum Maske und Handschuhe angezogen, als Lisa eine Rollbahre durch eine Pendeltür schob, die genauso aussah wie die im mittleren Raum. Als ich den Reißverschluss des Leichensacks aufzog, füllte ein Ekel erregender Gestank die Luft.
    »Ich glaube, er ist reif.«
    »Ein bisschen überreif.«
    Lisa und ich ließen den Torso auf den Tisch gleiten. Die Genitalien waren zwar angeschwollen und entstellt, aber noch intakt.
    »Es ist ein Junge.« Lisa Levine, Entbindungsschwester.
    »Zweifelsohne.«
    Ich machte mir Notizen, während Lisa die von LaManche angeordneten Röntgenaufnahmen holte. Sie zeigten vertebrale Arthritis und acht bis zehn Zentimeter lange Knochenreste der abgetrennten Glieder.
    Mit einem Skalpell entfernte ich das weiche Gewebe über dem Brustknochen, und Lisa schaltete eine Knochensäge ein, mit der sie die Brustbeinenden der dritten, vierten und fünften Rippen durchtrennte. Ähnlich verfuhren wir am Becken, wo wir die Frontseite freilegten und heraussägten.
    Alle sechs Rippen und die Schambeinfuge wiesen Porosität und viel erratisches Knochenmaterial auf. Der Kerl sah aus, als hätte er schon einige Jahre auf dem Buckel.
    Das Geschlecht wurde anhand der Genitalien bestimmt. Die Rippenenden und die Schambeinfuge würden mir eine Altersschätzung ermöglichen. Die Abstammung würde jedoch ziemlich schwierig werden.
    Die Hautfarbe ist deshalb bedeutungslos, weil eine Leiche, je nach den postmortalen Umweltbedingungen, dunkler werden, ausbleichen oder sich verfärben kann. Dieser Herr hatte sich eine Tarnfarbe ausgesucht: braun und grün gesprenkelt. Ich konnte ein paar subkraniale Maße nehmen, aber ohne Schädel und Gliedmaßen war eine rassische Einordnung so gut wie unmöglich.
    Als Nächstes trennte ich den fünften Nackenwirbel, den obersten der verbliebenen Halswirbel, ab. Ich löste schmieriges Fleisch von den Resten der Arm- und Beinstümpfe, und Lisa schnitt eine Probe aus den abgetrennten Enden jedes Oberarm- und Oberschenkelknochens.
    Eine schnelle Untersuchung ergab deutliche Absplitterungen und tiefe l-förmige Furchen auf jeder Schnittfläche. Ich vermutete, dass hier eine Kettensäge im Spiel war.
    Dann dankte ich Lisa, fuhr mit den Proben in den zwölften Stock zurück und brachte sie dem Labortechniker. Denis würde die Knochen einweichen und dann das verbliebene Fleisch und die Knorpel vorsichtig ablösen. In einigen Tagen könnte ich sie dann untersuchen.
    Auf meinem Fensterbrett steht eine Uhr mit dem Emblem der McGill University, die mir als Dank für eine Gastvorlesung von der Ehemaligenvereinigung überreicht worden war. Neben der Uhr steht ein gerahmter Schnappschuss von Kathy und mir, der während eines Sommers auf den Outer Banks aufgenommen worden war. Als ich mein Büro betrat, fiel mein Blick auf dieses Foto. Ich spürte den üblichen Stich, gefolgt von einem Gefühl der Liebe, das so intensiv war, dass es schmerzte.
    Zum millionsten Mal fragte ich mich, warum dieses Foto so starke Emotionen in mir auslöste. Sehnsucht nach meiner Tochter? Ein schlechtes Gewissen, weil ich so oft weg war? Trauer um die Freundin, bei deren Leiche es gelegen hatte?
    Ich erinnerte mich, wie ich dieses Foto im Grab meiner Freundin gefunden hatte, erinnerte mich an das Entsetzen, den brennenden Zorn. Ich stellte mir den Mörder vor, fragte mich, ob er während seiner langen Gefängnistage und -nächte an mich dachte.
    Warum behielt ich das Foto?
    Keine Erklärung.
    Warum hier?
    Ich hatte keine Ahnung.
    Oder? Wusste ich es tief in meinem Herzen nicht doch? Inmitten des betäubenden Wahnsinns von Mord, Verstümmelung und Selbstzerstörung erinnerte der rissige und ausgebleichte Schnappschuss mich daran, dass ich noch Gefühle hatte. Er löste Empfindungen aus.
    Jahr um Jahr stand dieses Foto auf meinem Fensterbrett.
    Ich ließ den Blick zur McGill-Uhr wandern. Zwölf Uhr

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