Knochenlese: 5. Fall mit Tempe Brennan
arbeitete, war der Direktor der gerichtsmedizinischen Abteilung immer um sieben gekommen und hatte das Institut erst lange nach seinen Angestellten verlassen. Der alte Mann war so zuverlässig wie eine Quarzuhr.
Außerdem war er ein Rätsel. LaManche machte im Juli drei Wochen Urlaub und dann noch eine Woche über Weihnachten. In dieser Zeit rief er täglich von zu Hause im Institut an. Er reiste, kampierte, gärtnerte, fischte oder golfte nicht. Soweit bekannt, hatte er keine Hobbys. Bei Nachfragen weigerte LaManche sich höflich, über seinen Urlaub zu sprechen. Inzwischen machten sich Freunde und Kollegen erst gar nicht mehr die Mühe.
Mein Büro ist das letzte in einer Reihe von sechs und liegt dem Anthropologielabor direkt gegenüber. Diese Tür erfordert einen Schlüssel.
Ein Berg von Papier türmte sich auf meinem Schreibtisch. Ich ignorierte ihn, stellte Computer und Aktenmappe ab und ging zum Pausenraum.
Wie erwartet, war LaManches die einzige offene Tür. Auf dem Rückweg steckte ich den Kopf hinein.
Die halbmondförmige Brille auf der Nasenspitze, hob LaManche den Kopf. Eine lange Nase. Lange Ohren. Ein langes Gesicht, mit langen, senkrechten Falten. Mr. Ed mit Lesebrille.
»Temperance.« LaManche benutzte als einziger meinen vollen Namen. In seinem präzisen, förmlichen Französisch endete die letzte Silbe in dem typischen Nasal. »Comment ça va?«
Ich versicherte ihm, dass es mir gut gehe.
»Bitte kommen Sie rein.« Er deutete mit einer riesigen, altersfleckigen Hand auf zwei Stühle vor seinem Schreibtisch. »Setzen Sie sich.«
»Danke.« Ich stellte meinen Kaffee auf die Armlehne.
»Wie war’s in Guatemala?«
Wie fasst man Chupan Ya kurz zusammen?
»Schwierig.«
»Auf vielen Ebenen.«
»Ja.«
»Die guatemaltekische Polizei wollte Sie unbedingt haben.«
»Dieser Meinung war nicht jeder.«
»Ach so?«
»Wie viel wollen Sie wissen?«
Er nahm die Lesebrille ab, warf sie auf den Schreibtisch und lehnte sich zurück.
Ich berichtete ihm von der Paraíso-Ermittlung und über Díaz’ Versuche, meine Mitarbeit zu verhindern.
»Aber gegen Ihre Mitarbeit im Fall Claudia de la Alda hatte er nichts?«
»Da tauchte er nie auf.«
»Gibt es für diesen Mord irgendwelche Verdächtigen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Die Tochter des Botschafters und ihre Freundin sind hier, es bleibt also nur noch eine junge Frau vermisst?«
»Patricia Eduardo.«
»Und das Faultankopfer.«
»Ja. Das könnte allerdings Patricia sein.«
Offensichtlich hatte sich auf meinem Gesicht Verlegenheit breit gemacht.
»Sie hatten keine Möglichkeit, diesen Díaz zu stoppen?«
»Ich hätte eine gründlichere Untersuchung durchführen können, solange ich noch die Chance dazu hatte.«
Wir schwiegen einen Augenblick.
»Aber ich habe ein paar Ideen.«
Ich erzählte ihm von der Katzenhaarprobe.
»Was hoffen Sie zu erreichen?«
»Ein Profil kann hilfreich sein, falls ein Verdächtiger gefunden wird.«
»Ja.« Unverbindlich.
»Hundehaare haben Wayne Williams der Kindermorde in Atlanta überführt.«
»Sie brauchen sich nicht zu rechtfertigen. Ich stimme Ihnen zu.«
Ich schwenkte meinen Kaffee.
»Ist wahrscheinlich eine Sackgasse.«
»Aber wenn M. Gagné bereit ist, das Haarprofil zu erstellen, warum nicht?«
Ich berichtete ihm von meinen Plänen mit den CT-Scans.
»Das klingt vielversprechender.«
Ich hoffte es.
»Haben Sie die zwei Anfragen gefunden, die ich Ihnen auf den Schreibtisch gelegt habe?«
LaManche meinte damit das Demande d’Expertise en Anthropologie, das Formular, das meiner Mitarbeit an einem Fall vorausgeht. Es wird ausgefüllt vom anfragenden Pathologen und enthält Informationen über die Art der erforderlichen Untersuchungen, die an dem Fall beteiligten Ermittler sowie eine kurze Zusammenfassung der bekannten Fakten.
»Der Schädel könnte nicht menschlich sein. Auf jeden Fall scheint es kein frischer Todesfall zu sein. Der Torso ist eine andere Geschichte. Bitte fangen Sie mit dem an.«
»Irgendwelche Kandidaten?«
»Robert Clément ist ein kleiner Drogendealer im westlichen Quebec, der sich vor kurzem selbstständig gemacht hat.«
»Ohne den Hell’s Angels Provision zu zahlen.«
LaManche nickte. »Das können die nicht zulassen.«
»Schlecht fürs Geschäft.«
»Clément kam Anfang Mai nach Montreal und verschwand kurz darauf. Vor zehn Tagen wurde er als vermisst gemeldet.«
Ich hob die Augenbrauen. Für gewöhnlich meiden Biker die Behörden.
»Eine anonyme
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