Knochenlese: 5. Fall mit Tempe Brennan
leicht angewinkelten Knien da und schwang die Luger in weitem Bogen. Von links nach rechts. Von rechts nach links. Obwohl er etwa fünf Meter von mir entfernt war, konnte ich seinen Atem hören und seine Augen unter dem marineblauen Schild sehen.
Ryan kauerte hinter einem Taxi, das an der Lambert-Close stand, und richtete seine Waffe mit beiden Händen auf den Schützen.
» Arrêtez! Keine Bewegung!«
Ein dunkler Lauf schnellte herum und zielte auf Ryans Kopf. Der Finger des Schützen zuckte am Abzug. Ich hielt den Atem an. Ryan hatte nicht geschossen, weil er keine Unbeteiligten gefährden wollte. Der Schütze hatte solche Skrupel vermutlich nicht.
»Waffe fallen lassen! Mettez votre arme par terre! « , rief Ryan.
Das Gesicht des Schützen zeigte keine Regung.
Einen Block entfernt ertönte eine Hupe. Die Ampel über mir schaltete von Grün auf Gelb.
Ryan wiederholte seinen Befehl.
Gelb zu Rot.
In der Entfernung eine Sirene. Eine zweite. Eine dritte.
Der Schütze erstarrte. Dann ging er zwei Schritte zurück und bückte sich, die Waffe weiterhin auf Ryans Gesicht gerichtet, zu einer Frau, die auf dem Bürgersteig kauerte. Die Frau drückte den Kopf aufs Pflaster und schlang beide Arme darüber.
»Bitte töten Sie mich nicht. Ich habe ein Baby.« Die Frau kreischte vor Entsetzen.
Der Schütze packte sie an der Jacke und zerrte sie über den Bürgersteig.
Ryan schoss.
Der Körper des Schützen zuckte. Er ließ die Frau los und fasste sich an die linke Schulter. Blut breitete sich auf seinem Hemd aus.
Dann richtete der Schütze sich wieder auf, hob die Luger und drückte viermal ab. Kugeln knallten in die Wand hinter uns. Ziegelbrocken regneten auf unsere Köpfe.
»O Gott. O nein.« Chantales Stimme war hoch und zitterig.
Ryan feuerte noch einmal.
Die Frau schrie auf, als der Schütze über sie fiel. Ich hörte den Schädel aufs Pflaster schlagen, die Luger schlitterte und kippte dann vom Bordstein, die Frau krabbelte den Bürgersteig entlang.
Die Frau schluchzte. Das Baby weinte. Ansonsten Stille. Keiner sagte etwas. Keiner rührte sich.
Ryan stand auf, die Waffe zum Himmel gerichtet. Ich sah, wie er nach seiner Marke griff.
Neben mir höre ich Chantale abgehackt atmen. Ich sah zu ihr. Ihr Kinn zuckte, und ihre Wangen waren feucht. Ich strich ihr übers Haar.
»Es ist vorbei.« Meine Stimme klang gar nicht wie ich selbst. »Du bist in Sicherheit.«
Chantale schaute mich an. Auf ihrem Gesicht klebten nur noch zwei Tattoo-Tränen.
»Wirklich?«
Ich legte den Arm um sie. Sie sank gegen mich und weinte stumm.
22
Wie am Morgen nach dem Überfall in Sololá, erwachte ich mit einem unbestimmten Gefühl des Grauens. Augenblicke später stürzte die Szene wieder auf mich ein. Noch einmal erlebte ich die Explosion von Nordsterns Brust. Hörte das Knallen von Ryans Waffe. Sah den leblosen Körper des Schützen und wie sein Blut auf den Bürgersteig sickerte. Obwohl ich noch keine offiziellen Berichte gehört hatte, war ich mir sicher, dass beide Männer tot waren.
Ich rieb mir mit beiden Händen übers Gesicht, schloss dann die Augen und zog mir die Decke über den Kopf. Nahm das Morden denn nie ein Ende?
Vor mir sah ich Chantale, die Wangen tränenüberströmt, der Körper starr vor Angst. Ein Schauer überlief mich, als ich daran dachte, wie leicht wir beide hätten verletzt oder getötet werden können. Wie hätte ich das ihrer Mutter sagen sollen?
Ich stellte mir vor, wie erschüttert Kathy wäre, wenn jemand ihr die Nachricht meines Todes überbringen würde. Gott sei Dank war das nicht nötig.
Ich erinnerte mich an Nordstern, wie er in meinem Büro in Guatemala City saß, und wie er an der Bar im Julian’s stand, Minuten vor seinem Tod. Ich bekam Gewissensbisse. Ich hatte den Mann nie gemocht, war nicht nett zu ihm gewesen. Aber ich hatte ihm nicht den Tod gewünscht.
Himmel! Was hatte Nordstern aufgedeckt? War es so gewaltig, dass es ihn auf einer Straße mitten in Montreal das Leben kostete?
Meine Gedanken kehrten zu Chantale zurück. Welche Auswirkungen würden diese Ereignisse auf sie haben? Es gab so viele Wege, die eine aufgewühlte Jugendliche einschlagen konnte. Reue? Flucht? Drogen?
Obwohl sie nach außen so taff wirkte, spürte ich, dass Chantale im Innern so zerbrechlich war wie ein Schmetterlingsflügel. Ich schwor mir, dass ich ihr beistehen würde, ob sie es zu schätzen wusste oder nicht, schlug die Decke zurück und ging unter die Dusche.
Der Sommer hatte kurz
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