Knochenlese: 5. Fall mit Tempe Brennan
untersuchte, starrte ich Nordsterns Habseligkeiten an. Offensichtlich hatte der Mann vorgehabt, ins St. Malo zurückzukehren. War ihm seine gefährliche Lage bewusst gewesen? Hatte er jemals mit seinem Tod gerechnet?
Ryan hielt den Schlüssel in die Höhe. Ein Plastikschildchen wies den Eigentümer als das Hotel Todos Santos an der Calle 12 in Zone eins aus.
»Nordstern wollte also zurück nach Guatemala«, sagte ich.
Als Ryan den Spiralblock aufklappte, fiel ein quadratischer weißer Umschlag auf den Boden. Am Geräusch erkannte ich den Inhalt.
Ich schnappte mir den Umschlag und schüttelte eine CD heraus. Auf einem selbst fabrizierten Etikett standen fünf Buchstaben: SCELL.
»Was zum Teufel ist Scell?«
»Punk-Rock?« Ich ärgerte mich noch immer über meine Bildungslücke bei diesem Genre.
»Minirock?«
»Vielleicht ist es ein spanischer Code.« Schon als ich es aussprach, merkte ich, dass es nicht stimmen konnte.
»Skelett?«, schlug Ryan vor.
»Mit einem ›c‹?«
»Vielleicht hatte der Kerl Probleme mit der Rechtschreibung.«
»Er war Journalist.«
»Cell Phone?« Der schicke Ausdruck für Mobiltelefon.
»S?«
Wir sprachen den Namen simultan aus.
»O Mann, glaubst du, der Kerl hat das Handy des Mädchens abgehört?«
Ich erinnerte mich an Chantals Mutter im Migräne-Modus.
»Hast du Mrs. Specters Andeutung auf die Spielchen ihres Mannes mitbekommen?«
»Meinst du, der Göttergatte hat ein Problem mit seinem Reißverschluss?«
»Vielleicht war Nordstern gar nicht an Chantale interessiert.«
»Und benutzte sie nur, um einen größeren Fisch an die Angel zu bekommen?«
»Vielleicht meinte Nordstern das, als er sagte, ich sei auf dem Holzweg.«
»Ein Botschafter, der fremdgeht, ist kein großer Fang.«
»Nein, ist es nicht«, stimmte ich ihm zu.
»Scheint mir vor allem nicht genug zu sein, um deswegen einen Kerl umbringen zu lassen.«
»Wie wär’s damit, dass Haare von der Katze des Botschafters in den Jeans eines Mordopfers auftauchen?«
»Ein fünfzigpfündiger Barsch.«
»O Scheiße.«
»Was ist?«
»Mir ist gerade etwas eingefallen.«
Ryan forderte mich mit einer Handbewegung zum Reden auf.
»Ich habe dir doch erzählt, dass auf zwei Leute unseres Teams bei einer Fahrt nach Chupan Ya geschossen wurde.«
»Ja.«
»Carlos ist tot, Molly hat überlebt.«
»Wie geht’s ihr?«
»Die Ärzte sagen, sie wird wieder ganz gesund. Sie ist jetzt wieder in Minnesota, aber Mateo und ich haben sie im Krankenhaus in Sololá besucht, bevor sie Guatemala verließ. Es klang alles recht verschwommen, aber sie meinte sich daran zu erinnern, dass die Angreifer über einen Inspektor redeten. Mateo und ich haben dann spekuliert, dass die vielleicht Specter sagten.«
»Das wär ja ‘n Ding.«
Ich steckte die CD wieder in den Umschlag zurück.
Als ich den Kopf hob, ruhte Ryans Blick auf mir. Und darin lag kein Lächeln.
»Was ist?«, fragte ich.
»Warum verfolgt ein Reporter aus Chicago Leute in Montreal für eine Story in Guatemala? Denk mal drüber nach.«
Das hatte ich bereits.
»Was immer Nordstern entdeckt hat, ist so heiß, dass es ihm in einem fremden Land das Leben kostete.«
Darüber hatte ich mit Sicherheit bereits nachgedacht.
»Halt die Augen offen, Brennan. Diese Leute waren bereit, Nordstern umzubringen. Sie sind skrupellos. Die schrecken vor nichts zurück.«
Ich bekam eine Gänsehaut auf den Armen. Doch das verging wieder. Ryan lächelte und kehrte zur alten Schnodderigkeit zurück.
»Ich werde Galiano sagen, er soll sich mal das Todos Santos vorknöpfen«, sagte Ryan.
»Ich würde auch vorschlagen, dass du dir Specter vorknöpfst, während ich meine Gesichtsrekonstruktion abschließe. Dann schauen wir uns die CD an, lesen Nordsterns Notizblock und kriegen so vielleicht heraus, wem er auf der Spur war.«
Ryans Grinsen wurde breiter. »Verdammt. Die Gerüchte sind wahr.« »Was für Gerüchte?«, fragte ich. »Dass du der Kopf der ganzen Operation bist.« Ich musste mich beherrschen, um ihm nicht gegen den Knöchel zu treten.
Der Anruf kam, als ich eben das Wasser von meinem Regenschirm schüttelte. Die Stimme am andern Ende war die Letzte, die ich hören wollte. Ich lud den dazugehörigen Körper in mein Büro ein, aber mit einer Begeisterung, die ich sonst nur für Steuerprüfer, Mitglieder des Ku Klux Klan und islamische Fundamentalisten aufbringe.
Sergeant-détective Luc Claudel erschien binnen Minuten, wie immer mit kerzengeradem Rücken und der üblichen
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