Knochenlese: 5. Fall mit Tempe Brennan
vorbeigeschaut und sich über Nacht wieder verzogen. Ich fuhr aus der Garage in zehn Grad kalten Nieselregen.
Die morgendliche Besprechung war angenehm kurz und förderte keine neuen Leichen zu Tage. In der Stunde danach stutzte ich Stücke von Radiergummi auf die richtige Länge und klebte sie auf Susannes Replik des Paraíso-Schädels. Bis auf einen gewissen Glanz und die feine Schichtung sah ihr Modell genauso aus wie ein echter Schädel.
Um zehn Uhr saß ich an einem Monitor in der Imagerie, der für Fotografie und Computerbearbeitung zuständigen Abteilung. Lucien, unser Grafikguru, rückte eben den Modellschädel vor einer Videokamera in Position, als Ryan eintrat.
»Was klebt denn auf diesem Schädel?«
»Marker für Gewebetiefe.«
»Sonnenklar.«
»Jeder Marker zeigt an, wie viel Fleisch an diesem speziellen Punkt auf Gesicht oder Schädel war«, erklärte Lucien. »Dr. Brennan hat sie gemäß dem Standard für eine mongoloide Frau zurechtgeschnitten. Richtig?«
Ich nickte.
»Wir haben schon einen Haufen solcher Gesichtsrekonstruktionen gemacht.« Er brachte einen Scheinwerfer in Stellung. »Aber das ist die Erste mit einem Plastikschädel.«
Haufen?
»Lass mich raten. Die Kamera fängt das Bild ein, schickt es an den PC, und du verbindest die Punkte.«
Ryan hatte eine Gabe, komplizierte Dinge kindergarteneinfach klingen zu lassen.
»Es steckt noch ein bisschen mehr dahinter. Aber ja, wenn ich mithilfe der Marker die Gesichtskonturen gezeichnet habe, suche ich Gesichtszüge aus der Datenbank des Programms heraus, finde die, die am besten passen, und kopiere sie hinein.«
»Ist das die Technik, die du auch bei den Leichen vom Inner Life Empowerment benutzt hast?«
Ryan meinte einen Fall, den er und ich vor einigen Jahren bearbeitet hatten. Ein paar McGill-Studenten waren in eine Randgruppensekte gedriftet und dem Unsterblichkeitswahn des Führers ausgesetzt gewesen. Als in einem flachen Grab nahe dieser Kommune in South Carolina ein Skelett gefunden wurde, fertigten Lucien und ich eine Zeichnung an, mit deren Hilfe wir die Überreste als die einer vermissten Studentin identifizieren konnten.
»Ja. Was ist mit Chantale?«
»Der Richter war damit einverstanden, ihr noch eine Chance für den häuslichen Arrest zu geben.«
Am Abend zuvor hatte ich Chantale nach Hause gebracht, während Ryan am Schauplatz blieb, um den Schusswechsel zu erklären. Heute Morgen hatte er bei den Specters vorbeigeschaut, um sich zu versichern, dass sie noch dort war.
»Glaubst du, dass Mommy jetzt besser aufpasst?«, fragte ich.
»Ich schätze, Manuel Noriega genießt mehr Freiheit als Chantale sich für die nächste Zeit erhoffen kann.«
»Gestern Abend war sie ziemlich niedergeschlagen.«
»Dieses ›Leck mich und lass mich in Ruh‹ ist auf jeden Fall fast verschwunden.«
»Wie geht’s dir?«, fragte ich, als ich die Anspannung in seinem Gesicht bemerkte.
In Montreal folgt auf jeden polizeilichen Schusswaffengebrauch eine interne Untersuchung. Damit objektiv geurteilt wird, lassen sich SQ-Beamte im Morddezernat der CUM befragen, und die SQ untersucht solche Vorfälle bei der CUM. Als ich mit Chantale wegging, sah ich, dass Ryan seine Waffe einem Polizisten der CUM gab.
Ryan zuckte die Achseln. »Zwei Tote am Tatort. Einer ging auf meine Kappe.«
»War ein guter Schuss, Ryan. Das wissen alle.«
»Ich habe die St. Catherine in eine verdammte Westernkulisse verwandelt.«
»Der Kerl hatte Nordstern getötet und wollte eine Geisel nehmen.«
»Haben sie dich schon angerufen?«
»Noch nicht.«
»Freu dich drauf.«
»Ich werd ihnen genau das sagen, was passiert ist. Habt ihr den Schützen schon identifiziert?«
»Carlos Vicente. Hatte einen guatemaltekischen Pass.«
»Der Trottel hat seinen Pass zu einem Mordanschlag mitgenommen?«
Ryan schüttelte den Kopf. »Einen Schlüssel vom Days Inn an der Guy. Wir durchsuchten das Zimmer und fanden den Pass in einer Reisetasche.«
»Klingt nicht nach einem Profi.«
»Wir haben außerdem zweitausend Dollar und ein Ticket nach Phoenix gefunden.«
»Sonst noch was?«
»Schmutzige Unterwäsche.«
Ich schaute ihn schief an.
»Ich habe Galiano angerufen. Vicentes Name taucht nicht im Computer auf, aber er hat vor, tiefer zu graben.«
»Was ist mit Nordstern?«
»Mit dem Pulitzer sieht’s schlecht aus.«
Noch ein schiefer Blick.
»Bin gerade unterwegs ins St. Malo. Und weil Nordstern dein Junge war, dachte ich, dass du vielleicht mitkommen willst.«
»Ich muss
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