Knochenraub am Orinoko
nördlichen Küste Südamerikas entfernt.«
»Dieser Esel!«, beschwerte sich Humboldt. »Nur zwei Tagesreisen Kurs Südsüdwest und wir passieren die Insel Tobago. Ganze vier Tage könnte man einsparen, wenn er meinen Kurs einhalten würde.«
»Ich kann es kaum erwarten, dass wir in Cumaná endlich von Bord gehen«, sagte Pedro an der Reling stehend, den Blick auf das endlose Meer gerichtet.
Dann wandte er sich ab und zu dritt liefen sie zu ihrem Tisch am Bug des Schiffes zurück. Dort hatten sie sich unter einem Sonnensegel einen schönen Arbeitsplatz eingerichtet, der luftig und windgeschützt genug war, um im Freien Temperaturmessungen von Wasser und Luft anzustellen.
»Sieh mal«, sagte Humboldt und zeigte auf eine Stelle auf der ausgebreiteten Karte. »Wir werden an der Nordküste von Südamerika, in Cumaná, an Land gehen. Doch unser eigentliches Reiseziel liegt noch viel weiter südlich. Wir möchten über den Orinoko reisen.«
»Was ist der Orinoko?«, fragte Pedro. Er fand, dass dieser Name schon recht geheimnisvoll klang.
»Er soll der drittgrößte Fluss Südamerikas sein und noch kennt niemand den genauen Verlauf«, erläuterteBonpland, während er den Kopf weiterhin über eine Pflanze gebeugt hielt, deren Stiel er gerade mit einem scharfen Skalpell aufschnitt. »Und von dort möchten wir nach Kuba, die Anden überqueren und zum Schluss noch Mexiko erkunden.«
»Wie lange soll die Reise denn dauern?«, wunderte sich Pedro.
»Drei, vier oder fünf Jahre«, räumte Humboldt zögernd ein.
»Was! So lange?«, rief Pedro. »Aber wie kann man denn so lange reisen?« Ihm war nicht klar, weshalb jemand freiwillig für so lange Zeit seine Heimat verließ, wenn es nicht wie bei ihm einen triftigen Grund dafür gab.
»Wir reisen beide im Dienst der Forschung«, erklärte Humboldt mit gewichtiger Stimme, »wir sind Naturwissenschaftler und wir haben die ausdrückliche Erlaubnis des Königs von Spanien, in die Überseekolonien Südamerikas zu reisen. Wir werden Berge und Flussläufe vermessen, genaue Karten erstellen und das Klima erforschen.«
»Aber wohnt da denn niemand, der das auch tun könnte?«, fragte Pedro, während er sich zugleich ausmalte, wie er mit den beiden Männern durch den Dschungel reisen würde, gefährliche Tiere beobachteteund ihnen zwischendrin half, Karten der Region anzufertigen. Allein bei dem Gedanken wurde Pedro schon ganz aufgeregt.
»Die Küstenregionen sind gut erschlossen«, gab Bonpland zu bedenken, »aber das Landesinnere ist noch reichlich unbekannt. Es gibt spanische Missionare, die versuchen, die Indianer zum Christentum zu bekehren, aber sie liefern keine zuverlässigen Studien über die fremdartige Pflanzen- und Tierwelt.«
»Das wird unsere Aufgabe sein. Und du hast das große Glück, bei einem weltgeschichtlich so bedeutenden Unternehmen dabei zu sein«, schloss Humboldt.
»Das ist großartig. Doch, ich freue mich riesig und …« Pedro räusperte sich verlegen.
»Was und …?« Bonpland lächelte Pedro aufmunternd an.
»Tausend Dank, dass Sie mir geholfen haben. Wer weiß, was der Kapitän sonst mit mir gemacht hätte.«
»Vermutlich hätte er dich den Fischen zum Fraß vorgeworfen.« Bonpland schmunzelte. »Im Übrigen musst du dich bei Humboldt bedanken. Oder er sich vielleicht eher bei dir? Für ihn lebst du ja seinen frühen Jungentraum aus!« Bonpland warf Humboldt einen spöttischen Seitenblick zu und grinste. AuchPedro wusste mittlerweile, dass Humboldt schon als kleiner Junge sämtliche Weltkarten studiert und davon geträumt hatte, einmal in ferne, südliche Länder zu reisen.
»Genug der Worte«, beendete Humboldt abrupt die Unterhaltung. »Wir sollten dich mit unseren Messinstrumenten bekannt machen, damit du sie auch bei unserem Einsatz bedienen kannst. Mit Barometer, Thermometer, Knallgasometer, Sextant und dergleichen kann nämlich nicht jeder umgehen.«
Zu Pedros großer Freude wurden sie schon wenige Tage darauf von kreischenden Seevögeln umschwärmt, die mit ihrem Geschrei die nahende Küste ankündigten. Noch bevor sie in den Hafen von Cumaná im Norden Venezuelas einliefen, kamen ihnen scharenweise Indianer in schmalen Kanus entgegengerudert.
»Schauen Sie nur«, rief Pedro begeistert, »ein richtiges Begrüßungskomitee!«
Bonpland stand mit ihm an der Reling. »Ich glaube, bei solch einer Indianermama könntest du auch ein schönes neues Zuhause finden.«
Pedro setzte ein schiefes Grinsen auf. »Ich weiß nicht …
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