Knochenraub am Orinoko
und dem Mann auf.
»Ruhig, ganz ruhig«, raunte Humboldt, wobei er sich bemühte, seiner Stimme einen besänftigenden Tonfall zu verleihen. Trotzdem merkte man ihm die Angst an. Pedro starrte abwechselnd auf den Wilden, der nun entwaffnet und verletzt vor ihnen stand, und auf Humboldt, der die gezückte Klinge langsam sinken ließ. Pedro hatte das Gefühl, dass die Zeit stehen blieb. Die Luft schien vor Spannung zu vibrieren. Bis der Fremde plötzlich auf der Stelle herumwirbelte und blitzschnell zwischen den Fackeldisteln verschwand.
Humboldt stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, zugleich schimpfte er: »Das war ausgesprochen dumm von dir, Pedro.« Er blickte ihn streng von der Seite an. »Der Mann hätte dich umbringen können.«
Pedro runzelte die Stirn und blitzte Humboldt mit wütenden Augen an. »Aber er hat Bonpland umgebracht und Sie hätten ihn einfach so laufen lassen?«
»Nein, hat er nicht«, entgegnete Humboldt, ohne auf Pedros Vorwurf einzugehen. »Ein Glück, er istnur bewusstlos. Wie schwer seine Kopfverletzung ist, kann ich allerdings nicht sagen.«
Schweigend kehrten sie zu Bonpland zurück. Er lag noch genauso reglos im Sand, wie sie ihn verlassen hatten.
»Aimé, wachen Sie auf! … Aimé!«, flüsterte Humboldt und schüttelte den Freund sacht an der Schulter. Da schlug Bonpland plötzlich die Augen auf. Verwirrt blickte er um sich und fasste sich an den schmerzenden Kopf.
»Was ist passiert?«, fragte er mit schwacher Stimme.
»Sie sind überfallen worden, von einem Zambo«, berichtete Humboldt, während er versuchte, Bonpland auf die Beine zu helfen. »Sie sind verletzt, wir müssen Sie zu einem Arzt bringen.«
»Was ist ein Zambo?«, erkundigte sich Pedro.
»Nicht jetzt, Pedro, hilf mir lieber, Bonpland zu stützen«, wies ihn Humboldt in ungeduldigem Tonfall an. »Wir müssen versuchen, ihn in den Ort zu bringen. Er braucht Hilfe.«
Gemeinsam hakten sie den Verletzten unter und zogen ihn vorsichtig auf die Füße. Doch er war zu schwach, seine Beine sackten ein, als wären sie aus Gummi. Bonpland stöhnte entsetzlich, als sie seineschlaffen Arme über ihre Schultern legten, damit er nicht sogleich wieder zu Boden fiel.
»Herrje, das schaffe ich nie«, klagte er mit brüchiger Stimme.
Wir müssen!, dachte Pedro und setzte stumm vor Anstrengung einen Fuß vor den anderen.
Freiheit für Abasi
Wie üblich in dieser Gegend war die Nacht schnell hereingebrochen. Nur der Mond leuchtete von Zeit zu Zeit durch die Wipfel der hohen Tropenbäume. Bonpland hatten sie im Schutz der ersten Häuser von Cumaná zurückgelassen und nun waren Pedro und Humboldt auf dem Weg ins Stadtzentrum. Sie mussten so schnell wie möglich einen Arzt finden.
Je näher sie der Plaza Mayor, dem Hauptplatz des Ortes, kamen, umso mehr Menschen begegneten ihnen. Die kühlere Abendstunde lockte sie alle aus dem Haus, um Geschäfte zu tätigen und die Neuigkeiten des Tages auszutauschen. Humboldt blieb in der Menge stehen, er wirkte erschöpft und rang nach Atem. Dann ging er zielstrebig auf das Haus des Statthalters zu, das mitten auf der Plaza Mayor lag. Es brannte kein Licht in den Fenstern und die schwere Holztür war verriegelt. Humboldt fuhr sich nervös über den Mund. »Wo, um Himmels willen, soll ich in der Menschenmenge Don Vicente deEmparán ausfindig machen?«, murmelte er verzweifelt vor sich hin.
Pedro blickte sich um. Als zwei junge Mädchen mit Körben in der Hand unter den Bogengängen entlang auf sie zuschlenderten, trat er ihnen entgegen und sprach sie geradewegs an: »Könnt ihr mir sagen, wo ich den Statthalter finde?« Die beiden blickten sich verlegen an und kicherten.
Pedro verdrehte die Augen. Mädchen waren doch überall gleich! Egal, wo man sich befand. Man stellte ihnen eine vernünftige Frage und sie gackerten wie die Hühner.
»Es ist dringend, bitte!«, flehte er. Anstelle einer Antwort zeigte eines der Mädchen mit dem ausgestreckten Finger auf die andere Seite des Platzes, wo sich eine Menschentraube gebildet hatte. »Danke, vielen Dank«, beeilte sich Pedro noch über die Schulter hinweg zu sagen und rannte dann mit Humboldt in die angewiesene Richtung. Plötzlich hielt Humboldt jäh im Laufen inne.
»Was ist?«, wunderte sich Pedro und betrachtete für einen Moment die Szene, die sich vor ihnen abspielte. Auf einmal dämmerte ihm, was auf dieser Seite des Platzes vor sich ging. Hier wurde kein Handel mit Zuckerrohr oder Baumwolle getrieben,wie er erwartet hatte, hier
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