Knochenzeichen
bezweifelte, dass auch nur irgendetwas leicht daran wäre, Alibis für drei beziehungsweise fünf Jahre zurückliegende Zeitpunkte zu besorgen. »Sie müssen ihn eben mal fragen. Wir sollten ohnehin bei sämtlichen Firmen hier in der Gegend nachhaken, die auf den Kreditkartenabrechnungen der Opfer auftauchen. Aber ich halte es für Zeitverschwendung, wenn Sie sich auf Sharper als möglichen Täter konzentrieren. Nachdem ich heute Morgen mit Gómez gesprochen habe, überlege ich, offen gestanden, ob wir es nicht mit mehr als einem Täter zu tun haben.«
Cait registrierte den konsternierten Blick, den die beiden wechselten, und fragte sich, ob sie sich diese Äußerung für später hätte aufsparen sollen. Sie hatte noch nicht sämtliche Seiten ihrer Theorie ausgearbeitet, obwohl ihr diese Möglichkeit sehr einleuchtend erschien.
»In Ihrem früheren Profil haben Sie diese Möglichkeit aber nicht erwähnt.« Andrews tippte in einem Rhythmus, der Cait augenblicklich auf die Nerven ging, mit einer Kante des Aktenordners auf den Tisch.
»Ich habe gesagt, dass sich das Dokument weiterentwickeln würde. Es verändert sich, je mehr Informationen ans Licht kommen. Und falls sich Geld als Motiv für die Morde erweisen sollte, anstelle des Tötungsakts an sich, dann verändert sich auch das Bild unseres Täters.«
Barnes legte den Kopf schief. »Wie das?«
»Marissa Recinos ist aus Seattle verschwunden. Paul Livingston aus L.A.« Sie zog die Brauen hoch und wartete, doch als keiner etwas sagte, fuhr sie fort. »Das ist eine große Distanz. Jemand muss die Entführung an sich durchführen. Die Geldtransfers. Die Morde. Die Entsorgung der Leichen. Wer auch immer die Auslandskonten eingerichtet hat, ist schlau genug, um die Polizei in zwei Bundesstaaten an der Nase herumzuführen. Das lässt auf ein intelligentes Individuum mit hoher Bildung und enormem Wissen auf diesem Gebiet schließen. Ein ganz anderer Tätertyp als derjenige, der die Leichen abgelegt hat. Die zweite Person ist zwar auch organisiert, wie man aus dem Umfang der Planung schließen kann, die die Entsorgung der Toten vermuten lässt. Aber seine Planung birgt Hinweise darauf, dass Emotionen dahinterstecken, die vermutlich auf einem traumatischen Erlebnis in seiner Vergangenheit beruhen.« Sie hielt einen Augenblick inne, da sie keine Zeit gehabt hatte, die Beschreibung komplett zu durchdenken. »Täter zwei könnte auch derjenige sein, der die Morde an sich ausführt.«
»Woher wollen Sie das wissen?« Barnes’ Tonfall klang eher neugierig als fragend.
»Beim Erstellen eines Profils kann man nur sehr wenig wirklich sicher wissen .« Cait wünschte, sie hätte die Flasche Wasser mitgenommen, die sie heute Morgen auf dem Weg hierher gekauft hatte. Ihre Kehle fühlte sich an, als hätte sie mit Sand gegurgelt. »Ich ziehe nur Schlüsse aus den vorliegenden Indizien. Aber wenn man davon ausgeht, dass es mehrere Täter sind, muss es etwas geben, das Täter Nummer zwei tiefer in das Verbrechen verstrickt. Täter, die im Team handeln, achten oft genau darauf, dass der eine genauso viel Schuld auf sich lädt wie der andere. Eine gleichberechtigte Arbeitsteilung, wenn Sie so wollen. Das trägt dazu bei, dass nicht der eine den anderen hinhängt. Er kann es nicht tun, da er sonst riskiert, sich selbst ebenfalls zu belasten. Die Knochen zu entsorgen birgt kaum das gleiche Risiko, wie Geld zu stehlen oder jemanden umzubringen.«
»Aber diese Ungleichheit ist genau das, was ich erwarten würde, wenn es sich zum Beispiel um einen Mann und eine Frau handelt, die zusammenarbeiten«, wandte Andrews ein. »Es wäre überhaupt nicht ungewöhnlich, wenn die Frau im Team diejenige wäre, die das kleinere Risiko eingeht, auch wenn sie bei der Durchführung des Verbrechens irgendwie mithilft.«
Cait nickte. »Stimmt. Aber falls einer der Täter weiblich ist, dann würde ich schätzen, dass sie das Gehirn hinter der Sache ist. Diejenige, die hinter den Geldtransfers steckt, einfach weil es schwer vorstellbar ist, dass eine Frau mitten in der Nacht die Leichen den Castle Rock hinaufschleppt.«
Andrews blieb hartnäckig. »Die Zeichnungen kommen mir aber eher weiblich vor. Allerdings könnten Sie trotzdem recht damit haben, dass es mehrere Täter sind.« Sie warf Barnes einen Blick zu. »Ich brauche eine Liste von sämtlichen Bekanntschaften Sharpers, mit denen er Kontakt hatte, seit er wieder hier in der Gegend ist.«
»Er ist hier aufgewachsen«, gab der Deputy zu bedenken.
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