KNOI (German Edition)
kaufen werde. Jennifer bevorzugte
gelähmt
, weil sie
behindert
zu schwammig fand. Behindert seien viele, selbst Menschen, die es gar nicht wüssten. Behindert sei doch jeder, der an gewisse Grenzen stoße, sagte sie. Ja, heutzutage sei doch beinahe jeder behindert, sei es geistig, körperlich oder sozial, sie sehe da überhaupt keinen Unterschied. Und wenn er jetzt wieder sage, dass sich aber nur der wirklich Behinderte nicht aus seiner Lage befreien könne, dann wolle sie gar nicht weiterreden. Niemand könne sich irgendwann aus seinem behinderten Dasein loseisen. Warum sie jetzt
loseisen
sage, fragte Jakob,
loseisen
sei ein Wort, das sie nie verwende. Stimmt,
loseisen
sei ein Jakobwort, sagte Jennifer, und daran sehe man schon, wie behindert man sei. Ein jeder nehme ständig vom anderen etwas an, jeder sei also behindert, worauf Jakob wütend den Kopf schüttelte und sagte, wenn man so wie sie argumentiere, dann brauche man überhaupt keine Worte mehr. Dann werde nichts je konkret. Ein Behinderter müsse eben damit leben, dass er behindert sei und könne dann nicht einfach die ganze Welt für behindert erklären. Natürlich sei die gesamte menschliche Existenz behindert in ihrem Dasein. Der Körper an sich sei allein schon die größte Behinderung. Das gelte aber für jede Existenz. Ein Maulwurf sei schließlich auch blind. Niemand würde aber auf die Idee kommen, diesen Maulwurf als behindert zu bezeichnen. Hätte dieser Maulwurf hingegen keine Schaufelhände, dann müsse man zwangsläufig von einem behinderten Maulwurf sprechen. Es zähle eben schon der Standard der eigenen Gattung, und sie, Jennifer, sei eben behindert, weil sie nicht gehen könne. Und für solche Menschen würde er einen Reiseführer schreiben. Wenn Jennifer wütend wurde, spannten sich ihre Kiefer und ihre Nasenflügel zogen sich zusammen. Was er sich eigentlich einbilde? Er habe doch nicht den blassesten Schimmer, wie sich ein Gelähmter durch eine Stadt bewege.
Behindertengerechtes Reisen
, wenn sie das schon höre. Ob er tatsächlich glaube, sie stehe ratlos vor einer U-Bahntreppe, wenn der Aufzug defekt sei. Das passe schon eher zu Jakob, der in solchen Situationen immer gleich in einen Lähmungszustand verfalle. Jakob leide da unter einer viel größeren Behinderung als sie. Wenn Jakob wütend wurde, dann biss er die Zähne zusammen und neigte seinen Kopf, als könnte er die Wut aus dem Ohr schütteln. Bei ihm saß die Wut im Kopf, bei ihr im Bauch. Nur weil er sich nicht mit jedem Taxifahrer oder jeder Kassiererin gleich in die Haare kriege, fauchte Jakob, heiße das nicht, dass er alles mit sich machen ließe. Aber Jennifer fahre die Geschütze auf, bevor noch etwas passiert sei. Sie leide an Streitsucht, sagte er, Konfliktscheu, fauchte Jennifer zurück. Kein Streit, dem er nicht aus dem Weg gehe, sagte Jennifer, worauf Jakob noch schneller rollte und sagte, dass man das im Augenblick wohl kaum behaupten könne. Schließlich stritten sie gerade, und Jennifer, die ebenfalls ihr Tempo erhöhte, murmelte, dass sie sich längst frage, warum er sie nie verlassen habe. Diese Beziehung pendle ohnehin nur zwischen Langeweile und Streit, aber wahrscheinlich sei auch das ein Ergebnis seiner Konfliktscheu. Und der Grund, warum er sich in diesen Rollstuhl setze.
Sie rollten nebeneinander am Gehsteig die Straße hinunter. Die Passanten wichen genervt aus. Jakob, den Blick nach vorne gerichtet, sagte, dass sie sich schon anschauen werde, wenn sie so weitermache. Er könne jederzeit gehen, unterbrach ihn Jennifer, das habe sie ihm von Beginn an gesagt. Seit Jahren versuche sie sein Gehen herbeizureden, sagte Jakob, das liege an ihrem Vater, dessen Gehen man auch herbeigeredet habe, aber er, Jakob, sei nicht Jennifers Vater, sie möge das endlich zur Kenntnis nehmen und einen Therapeuten aufsuchen. Er habe diese Stellvertreterkriege satt. Was ihm übrigens einfiele, intime Dinge mit Ritas Therapeutin zu besprechen, sagte Jennifer. Ausgerechnet mit dieser fehlbesetzten Pseudotherapeutin. Da könne man sich die Ex-Verlobte gleich ins Bett legen. Er sei da schließlich nicht freiwillig hingegangen, sagte Jakob, es gehe ausschließlich um Rita und Lutz.
- Ha, sagte Jennifer.
Selbstverständlich gehe es auch um ihn, schließlich sei Rita jetzt mit Lutz zusammen, weil er sie damals verlassen habe. Man könne diesen Plombierer gar nicht losgelöst von Jakob betrachten. Vielleicht erkläre das auch, warum Lutz ein Auge auf Jennifer geworfen habe, sagte
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