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KNOI (German Edition)

KNOI (German Edition)

Titel: KNOI (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Schalko
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die anderen als Puppen nachzubauen. Er hatte ihr eine Seife gegeben, die den Eigengeruch entfernte. Er hatte gesagt, dass er sich nicht verlieben wolle. Und dass eine geruchlose Sybille mehr Raum für eine Szene lasse. Wenn Lutz die Augen schloss, dann sah er sich selbst ohne Gesicht. An seiner grünen Haut perlte der eigene Schweiß ab. Er weinte, weil es ihn nicht gab. Und oft, nach einer Szene, legte sie die Rolle ab und nahm ihn in den Arm, bevor sie sich schweigend trennten. Sie kannte Lutz zart, brutal, bettelnd, handgreiflich, wimmernd, kaltblütig, naiv, distanziert, gefährlich – sie kannte jedes Adjektiv an Lutz. Hatte sie begonnen, etwas für ihn zu empfinden? Sie vermisste seine Befehle, wenn sie ein paar Tage ausblieben. Sie hatte sein Auge zu schätzen gelernt. Es war natürlich nicht geschult, trotzdem erkannte er, ob eine Rolle gut gestaltet war. Er hatte ihre Arbeit richtig zu bewerten gelernt und war mit der Zeit auch bereit gewesen, mehr dafür auszugeben. Wie viel Leid ihm Sybille wert war. Es musste jeden etwas kosten. Ökonomie. Volkswirtschaft. Fuck! Für zwanzigtausend Euro musste man viele Zähne bohren.
    Jennifer versuchte, den Streit mit Jakob auszublenden. Für die Zwanzigtausend musste sie in Höchstform sein. Sie hatte noch zwei Stunden Zeit, aber Jakob hatte sie aufgewühlt zurückgelassen. Zur Ruhe kommen, Jakob wegatmen, dieser Nachmittag gehörte Lutz. Eine Rolle annehmen. In einer Welt, in der es Jakob nicht gab. Aber es ging nicht, in jeder Szene tauchte er auf und erinnerte sie daran, wer sie nicht war. Jennifer dies, Jennifer das, Jennifer dort, Jennifer da. Sie flüchtete nachhause und legte sich aufs Bett. Sie inhalierte die stehende Luft, die gemeinsame Luft. Sauerstoffmangel. Blei. Rohrbach. Anschnallen. Sie schloss die Augen. Leicht werden. Jeden einzelnen Gegenstand dieser Wohnung hinter sich lassen. Das Wohnzimmer. Die Küche. Das Schlafzimmer. Die Kleider. Die Schuhe. Den Schmuck. Die Bücher. Die Platten. Das Klavier. Den Rollstuhl. Alles ließ sie zurück. Als hätte es nie zu ihr gehört.

SIEBEN
    Jakob war den ganzen Tag herumgefahren. Aber nur hier am Flussufer sah es so aus, als hätte er schon immer dagestanden. Er beobachtete die Passanten, wie sie vor dem Rollstuhl stehenblieben und das Wasser nach einem leblosen Körper absuchten. Solche Flüsse sogen Selbstmörder massenweise in sich auf und spuckten sie nur selten wieder aus. Das liege an der Kälte, sagte ein Passant, durch die Kälte würden die Leichen nicht hochgespült, das habe etwas mit der Wasserdichte und dem Gewicht zu tun. Ein zweiter Passant widersprach ihm nicht, und ein anderer schaute sich um, ob nicht doch ein lebloser Körper an der Oberfläche trieb. Niemand dachte an Mord. Warum sollte man jemanden im Rollstuhl ermorden, noch dazu hier, wo ständig Menschen vorbeigingen? Wer würde eine gelähmte Leiche entsorgen und den Rollstuhl stehenlassen? In den Fluss werfen. Die Leiche anbinden. Stoßen. Versenken.
    Jetzt, da er den Rollstuhl am Ufer stehen sah, dachte Jakob an Mord. Obwohl es nicht ihr, sondern sein Rollstuhl war. Hätte er nicht an Selbstmord denken müssen? Aber er dachte an Mord und stellte sich vor, wie er sie im Fluss versenkt, wie er sie im Wald vergraben, wie er sie von einem Hochhaus hinuntergestoßen, wie er sie mit gefesselten Händen auf ein Bahngleis gelegt hätte und dann mit dem Rollstuhl hierhergefahren wäre, um von dem wirklichen Tathergang abzulenken. Der Wunsch, sie wäre tot, war über die Jahre nie vollständig abgestorben. Das hier sah nicht nach Mord aus, das hier sah aus wie ein Täuschungsmanöver. Das passte zu Jakob. Immer nur halb, immer nur Andeutung.
    Ein Leben ohne Identität und ohne festen Wohnsitz. So lange, bis man aufgehört hätte, sich umzusehen, ob man verfolgt wurde. Ein Leben im Überall, wo es nach Hotelwäsche roch, wo man Musik durch die Wände hörte und aß, wo ein Lächeln erwidert wurde. Im Überall folgte man Passanten und hoffte, dass sie nicht ebenfalls nur jemandem folgten. Im Überall nannte man falsche Namen, erfand einen Aufenthaltsgrund und erschwindelte sich eine Biografie. Im Überall unterhielt man sich mit dem Wetter, ließ U-Bahnen davonfahren und ging in Supermärkte, ohne etwas zu kaufen. Im Überall erkannte man die Menschen, mit denen man einst gelebt hatte, nicht mehr.
    Als Jakob Schober war er geboren worden, und als Jakob Schober würde er sterben. Von Schober zu Schober wurde immer weniger geschobert, so lange,

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