KNOI (German Edition)
bis vor der Welt und vor ihnen, den Schobers, selbst nichts Schoberisches mehr übrigbleiben würde. Dieses Verstecken von allem Schoberischen nahm über die Generationen derart zu, dass Jakobs Eltern bereits nur noch das konstatierten, was ohnehin jeder mit freiem Auge erkennen konnte: das Wetter, das Fernsehprogramm, den Verkehr oder eine Schlagzeile. Insofern hatten sie Konrads Verschwinden gut verkraftet. Denn eine Dienstreise war eben eine Dienstreise. Dem Begriff wohnte etwas ähnlich Absolutes inne wie dem Wetter oder dem Verkehr. Das sei eben so. Kinder hin, Kinder her, das verhalte sich wie bei einem Naturgesetz. Und hätte Jakob jemals eine angemessene Begrifflichkeit für seine Nicht-Existenz gefunden, dann hätten sie auch diese abgenickt. Aber für Jakobs Nichtstun gab es keinen Begriff. Daher wurde Jakobs Nichts auch immer als solches bezeichnet und mit der immergleichen, auf dem Platz tretenden Nervosität quittiert, die eine solche Unbegrifflichkeit in den kopfschüttelnden Eltern auslöste.
Als Marie eingeschlafen und Jennifer aufgewacht war, da sagte Jakobs Vater, sie sei aufgewacht, und Jakobs Mutter sagte, dass sie jetzt wohl wach bleiben würde. Da fielen sie selbst in den letztmöglichen Tiefschlaf, aus dem sie nicht mehr erwacht wären, wäre es nicht immer schon Jennifers Ansinnen gewesen, alles und jeden bis in den letzten Winkel zu erkennen zu geben. Sie machte da vor sich selbst keinen Halt. Im Gegenteil, sie serviere sich jedem, der es nicht wolle, sofort auf einem Silbertablett, hatte Jakobs Mutter gesagt, ohne dabei Jennifers Existenz besprechen zu wollen, denn diese wurde von ihrem Erwachen weg ignoriert. Es gab mit Jennifer keinen Nicht-Jennifer-Moment, während es mit den Schobers ausschließlich Nicht-Schober-Momente gab. Das vertrage sich nicht, dachte Jakob, wobei sich gerade das vertrage, sagte Jennifer, bei der Reden und Denken stets das Gleiche waren. Jennifer stellte von Beginn an klar, dass sie jemand sei, der nie zuerst den Blick abwende, der bei diesem Hin- und Hergeschobere nicht mitmache. Das kenne sie zur Genüge aus Rohrbach, wo auch keiner dem anderen in die Augen sehe, und dass man nicht gemeinsam hier sitzen würde, wenn einen die Umstände nicht zwängen, wobei diese Umstände nur so lange aufrechtzuerhalten seien, so lange sich die Schobers bereit erklärten, ihre Schoberangelegenheiten offen auf den Tisch zu legen und alles Rohrbacherische im Schoberischen auszumerzen, denn sie, Jennifer, sei nicht bereit, sich wieder einzutreten, was sie ein Leben lang loszuwerden versucht habe. Ihr, Jennifer, sei natürlich bewusst, dass man hier jetzt lieber Rita sitzen sähe, die als Schwiegertochter natürlich viel besser zu den Schobers passe, denn während die Schobers nie aus ihrer Unkenntlichkeit heraustraten, stülpte Rita stets immer ihr Bestes nach außen, selbst dann, wenn das Beste nichts mit ihr zu tun hatte. So wusste man von den Schobers nichts und von Rita nur das Beste, was bei genauerer Betrachtung keinen Unterschied machte. Jennifer hingegen hatte sich vorgenommen, wenn schon so eine Existenz, dann eine völlige, und sie bezweifelte, dass Jakob und seine Eltern bereit waren, eine so völlige Existenz in Kauf zu nehmen. Worauf Jakobs Eltern sagten, es gebe auch Dinge, die vom Wetter, dem Verkehr oder dem Fernsehprogramm abhingen. Und Jakob sagte gar nichts mehr, wünschte sich nur, dass das ständige Reden ein Ende finde, bis sich selbst dieser Wunsch verlor und es ihm gar nicht mehr auffiel, was von wem wann gesagt worden war.
Der wesentliche Vorfall passierte dann mit Großmutter Schober, die nur sterben konnte, wenn alle getauft waren. Selbst Konrad musste sich diesem Zwang unterwerfen. Großmutter Schober und ihre zwei Schwestern waren in Summe zweihundertsiebenundachtzig Jahre alt. Alle drei waren seit Jahrzehnten verwitwet, und Jakob sagte, dass sie vielleicht deshalb so lange lebten, weil sie es alle nicht eilig hätten, ihre Ehemänner wiederzusehen, wobei Großmutter Schober selbst behauptete, dass sie immer aufgehört habe zu essen, wenn sie satt gewesen sei. Großmutter Schober hatte aber trotz des frühen Ablebens ihres Mannes ein unglückliches Leben hinter sich, denn ihr fehlten von Kindheit an drei Finger. Wenn sie einem Fremden die Hand reichen musste, zog sie sie möglichst schnell wieder zurück und verschränkte ihre Hände dann hinter dem Rücken. Sie sollten unsichtbar sein, darauf hatte man sich bei den Schobers geeinigt.
Die ungetaufte
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