Koala: Roman (German Edition)
den ich seit vielen Jahren nicht mehr gehört hatte, den man ihm als Kind bei den Pfadfindern gegeben hatte und der unter Eingeweihten als geheimer Ruf, als Totem zirkulierte, der Name eines Beutelsäugers, eines Tieres vom anderen Ende der Welt.
Danach setzte wieder ein Schweigen ein, jedoch ein anderes, eines, das nicht von einem Geist rührte, kein außergewöhnliches, kein Schweigen der Aufmerksamkeit, eines, das zu dieser Gegend gehörte und das mir nur zu vertraut war.
Wenn einer in jene Stadt kommt, die er dreiundzwanzig Jahre zuvor verlassen hat, an einem Wintersonntag, im ersten Schneegestöber, von einem Vorortbahnhof aus, mit einem Koffer in der Hand, einem Koffer aus brauner Pappe, den er Jahre zuvor von einer alten Dame überreicht bekommen hat, einer Dame, die in einem weitläufigen Haus lebte, alleine, als Witwe oder als ledige Frau, man vermag es nicht mit Sicherheit zu sagen, ein Haus, nebenbei gesagt, in dessen Stall der junge Mann morgens und abends fünf verlorene Rinder zu versorgen hatte, Rinder, die ihn jeweils mit einem Husten begrüßten, wenn also dieser Mann nun mehr oder weniger unfreiwillig in seine Heimatstadt zurückkehrt, dann wird er als erste Maßnahme seiner kurzzeitigen Eingliederung in diese Gesellschaft den Wortschatz reduzieren, die Sätze verklumpen lassen. Er wird alles vermeiden, was geschmeidig, anmutig oder gebildet erscheinen könnte. Kaum aus dem Zug gestiegen, spricht er nur in Brocken, bestellt am Kiosk die Zigaretten mit zwei, drei dumpfen Worten und wird selbst unter Bekannten seiner Seele keine Satzgirlanden verleihen. Viele Worte, so hat er als Kind gelernt, verliert allein der Hausierer, einer, der etwas verkaufen will, um das niemand gebeten und für das keiner Verwendung hat. In dieser Gegend geht man stumm durchs Leben, höchstens die Mädchen dürfen schwatzen, bis auch sie früher oder später erwachsen werden und sich in das Schweigen zu finden haben. Und falls der Besucher Fragen hat, die ihn umtreiben und von deren Antworten er sich eine Beruhigung der Seelenlage verspricht, dann wird er sie für sich behalten müssen, denn in dieser Gegend gelten Fragen nie als Ausdruck der Beteiligung, sondern als unangebrachte Neugier. In jeder Frage steht eine Anklage.
Und deshalb schwieg ich in jenem Haus an jenem Abend und hörte einfach zu, weil ich den Freunden, die sich so schuldig fühlen mussten wie ich, nicht mit übertriebener Neugier zu nahe treten wollte, und auch weil ich wusste, dass sich Wissen, zumal jenes über den Selbstmord, hier anders verbreitete als über das gesprochene Wort. Das Wesentliche lag im Ungesagten, in den Blicken, in den Gesten, den unausgesprochenen Gedanken, die als Gekräusel auf einer Stirn sichtbar wurden, als Lippen, die sich verkneifen.
Später am Abend wechselten wir in die Wohnung der Stiefmutter meines Bruders, ein paar Straßen weiter. Sein Vater lag ohne Bewusstsein im Krankenhaus, die Folge eines Hirnschlags, den er ein paar Wochen zuvor erlitten hatte. Wir kamen überein, mit der Trauerfeier zu warten, bis der Vater so weit genesen war, um die Nachricht vom Selbstmord seines Sohnes entgegennehmen zu können. Danach setzten wir die Todesanzeige auf, die erste Gelegenheit, bei der ich mich nützlich machen konnte. Ich erinnere mich an einen kurzen Streit über die Frage, in welcher Sprache die Anzeige verfasst werden sollte, in der Mundart oder der Hochsprache. Mehr gab es an jenem Abend nicht zu besprechen. Ich kehrte nach Hause zurück, in mein Leben, jedenfalls versuchte ich es.
Seine Habseligkeiten waren rasch verteilt. Die Uhr, Marke Tissot, das blaue Fahrrad, das man abgeschlossen am Bahnhof fand, die beiden Backgammon-Koffer, der braune, der ihm mehr bedeutet hatte als der schwarze, die Schachtel mit den Präzisionswürfeln aus Monte Carlo, die Pink Floyd-CDs und jene von Chris Rea, der Esstisch und die Stühle, die Comicsammlung, die an mich ging, das Bett, die rote und die schwarze Lederjacke, das graue Schraubenschlüssel-Set, das Mobiltelefon, die paar Franken, die auf seinem Konto lagen – alles wurde über die Stadt und das Land verstreut, jeder, der ihm nahe gewesen war, erhielt seinen Anteil, so wie mein Bruder es in seinem Testament bestimmt hatte. Nichts blieb zusammen. Die Dinge, so schien es mir, die sich im Leben an die Person binden, um die man sich bemüht, damit sie nicht verlorengehen, mit denen wir uns umgeben und an denen uns die anderen erkennen, lösen sich nach dem Tod von den Menschen, es
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