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Koala: Roman (German Edition)

Koala: Roman (German Edition)

Titel: Koala: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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weichen Ei im Frühstücksraum eilte ich zurück aufs Zimmer und übergab mich in das Klosett. Danach stürzte ich hinaus in die Gasse, ich kann mich nicht erinnern, aus welchem Grund, ob ich etwas suchte, eine Schmerztablette vielleicht, oder ob ich meinen Kreislauf in Gang bringen wollte, jedenfalls irrte ich eine Weile benommen durch die Lauben, bestrebt, den Menschen auszuweichen, bevor ich mich auf die Terrasse des Hotels setzte und versuchte, die Strömung des Flusses und den Straßenlärm zu ignorieren und mich auf eine Journalistin des lokalen Radiosenders zu konzentrieren, die Fragen zum vergangenen Abend stellte, wissen wollte, wie ich mich an diesem sonnigen Morgen in meiner alten Heimatstadt fühle. An meine Antworten erinnere ich mich nicht, aber ich war erleichtert, als die halbe Stunde vorbei war und ich mich auf den Weg zum Bahnhof machen konnte. Ich wünschte nur, niemanden zu treffen und keinem Menschen zu begegnen, und als ich mich endlich in einem Abteil niederließ und sich der Zug in Bewegung setzte, sagte ich mir, dass alles schlimmer hätte enden können und das Wiedersehen mit meiner alten Heimat glimpflich verlaufen sei. Meinen Bruder aber habe ich nie wieder gesehen.
    Das letzte Lebenszeichen meines Bruders erreichte mich im November darauf. An einem Sonntag schickte ich eine Kurznachricht, in der ich ihm zum Geburtstag gratulierte. Ich saß am See, der Tag war warm, Martinisommer, über dem Wasser kreisten die Möwen, Ausflügler promenierten, und da ich nicht sicher war, ob ich mich an das richtige Datum erinnert und er nicht schon am Vortag gefeiert hatte, formulierte ich meinen Glückwunsch vorsichtig, eher als Frage. Minuten später traf seine Antwort ein, ja, schrieb er in seiner Mundart, heute seien es genau fünfundvierzig Jahre und er freue sich aufrichtig, dass ich daran gedacht habe. In diesem Dank erkannte ich einen kleinlichen, aber nicht unberechtigten Vorwurf, denn obwohl ich es billig, um nicht zu sagen schäbig fand, ihm auf diese Weise zu gratulieren und nicht etwa mit einem kartengeschriebenen Gruß, war es doch das Äußerste an Aufmerksamkeit, das ich seit langer Zeit für ihn aufgebracht hatte. Geburtstage waren verstrichen ohne Nachricht, und ich nahm mir vor, öfter an meinen Bruder zu denken und ihn zu einem größeren Teil meines Lebens werden zu lassen, mehr noch, ich weitete diesen Vorsatz auf andere Menschen aus, um die ich mich wenig gekümmert hatte. Danach muss ich mich erhoben und einer Tätigkeit zugewandt haben, die mir damals unaufschiebbar schien, an die ich heute jedoch nicht die leiseste Erinnerung besitze. Meine Aufforderung, an diesem Tag nichts aus- und es gehörig knallen zu lassen, ließ er unbeantwortet.
    Was ich nicht wissen konnte: Sechs Tage zuvor, an einem Montagnachmittag, an dem ich, wie mein Kalender mir später verriet, mit den Kindern einen Wildpark besuchte, hatte sich mein Bruder an einen Tisch gesetzt und mit schwarzem Kugelschreiber zuerst seinen Namen, das Datum seiner Geburt und jenes bestimmten Tages, dazu die Uhrzeit auf einen Bogen Papier gesetzt. Und während wir im weitläufigen Gehege nach dem Wolfsrudel suchten, das sich im Unterholz versteckte, formulierte mein Bruder seinen letzten Willen. Die Verteilung seines Besitzes nahm anderthalb Seiten und fünfzig Minuten in Anspruch, bevor er kurz nach fünfzehn Uhr abschließend bestimmte, dass man von einer Organspende absehen und seine Asche im See verstreuen solle.
    Sechs Wochen später, kurz vor Weihnachten, rief mich eine unbekannte Frau an und überbrachte die Nachricht seines Todes. Die Frau erwies sich als seine Vorgesetzte, die ihn zum Dienst in der Notschlafstelle erwartet und nach einigen vergeblichen Anrufen schließlich einen Freund meines Bruders und danach die Polizei informiert hatte. Ihre Stimme war sanft, vorsichtig, als sie mir mitteilte, dass man ihn Stunden zuvor in der Badewanne seiner Wohnung gefunden habe. Sie gab mir die Nummer eines Mannes, den ich von früher flüchtig kannte und der die Leiche gemeinsam mit einem Freund entdeckt hatte. Nach einigen Worten des Beileids, für die ich mich bedankte, hängte sie auf, und ich hatte keine Ahnung, was ich nun tun sollte.
    Vielleicht eine, vielleicht zwei Stunden blieb ich in meinem Lehnstuhl sitzen und weinte, erstaunt über die Automatik, mit der mein Körper geschüttelt wurde, nur weil ich Worte, eine unerfreuliche Nachricht vernommen hatte. Man hatte mir nichts getan, alles war wie fünf Minuten zuvor.

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