Koala: Roman (German Edition)
nicht denken konnte, ohne selbst angesteckt zu werden von der Turbulenz, die sie hinterließen. Mein Bruder hatte nichts gerundet, es gab keine Versöhnung mit dem Chaos, er war nicht zurückgekehrt, kehrte nicht heim in Abrahams Schoß. Er hatte keinen Platz in der Ewigkeit, seine Ewigkeit war der Augenblick, der Schmerz, der mit jedem Gedanken an ihn zurückkehren würde, so lange, wie es Menschen gab, die sich seiner erinnerten. Er gab keine Ruhe, er ruhte nicht, er gab keinen Frieden, er hatte keinen Frieden, es gab kein letztes Bild im Fotoalbum, jedes Bild im Album seines Lebens war das letzte, das die ganze Existenz beinhaltete, seine Existenz hatte sich in keine Erzählung gerundet, nichts hatte sich vollendet, kein Sinn sich gezeigt, keine Moral ließ sich schließen aus dem, was er vorgelebt hatte.
Das ging mir durch den Kopf auf dem Weg an den Stadtrand, wo wir uns verabredet hatten, um etwas zu trinken und zu essen, wie es die Lebenden tun, wenn sie jemanden ins Totenreich verabschiedet haben. Ich fuhr mit einem Mietwagen, alleine, Wiesen, Äcker, ein Wald, Hochspannungsleitungen, ein Reitstall, Lagerhallen, die Stadt franste aus, eine Unordnung, irgendwo ein Friedhof, es schien mir ganz unmöglich, dass ich hier aufgewachsen war. Der Himmel immer noch klar, aber langsam, gegen Mitte des Nachmittags, wurden die Schatten länger, es wurde kalt.
Das Ziel war das Pfadfinderheim, das letzte Haus vor dem Wald, ein Zweckbau, hexagonal, in der Mitte eine Feuerstelle. Wir setzten uns in einen Raum, der gegen den Wald hinaus ging. Ich fragte mich, warum wir nicht in ein Restaurant gegangen waren – es musste gute Gründe gegeben haben. Vielleicht waren es die Kosten, vielleicht, weil man hier unter sich war und ungestört. Es gab keinen Wirt, mit dem man sich herumschlagen musste und der unangenehme Fragen stellte. Die Versammlung, vielleicht ein Dutzend Menschen, hatte etwas von einer Verschwörung, als müsse man sich verstecken, weil man zu einem Selbstmörder hielt.
Ich stellte fest, dass mein Bruder nicht da war, dass er fehlte, er war nirgends zu sehen, keine Spur, kein Zeichen, er war abwesend. In meinem Bewusstsein geisterten einige Erinnerungen herum, besonders jene an den Moment, als wir die Asche in den See geschüttet hatten und ich zu meinem größten Erstaunen feststellte, wie deutlich der menschliche Ursprung zu erkennen war. Die porösen Knochenstücke ließen keinen Zweifel. Vielleicht war es das Erschrecken über die Deutlichkeit dieser Überreste, jedenfalls wurden sie mir zu einem seltsamen Trost. Der Weg zu dieser Asche war nicht mehr weit, und er war unvermeidlich, was ich zwar immer gewusst, aber nie so deutlich gefühlt hatte. Es blieben ein paar Jahre, nicht mehr, und da es ohnehin bald zu Ende sein würde, war jede Furcht unbegründet. Es hieß zwar immer, das Schicksal sei ungewiss und die menschliche Furcht rühre von der Unsicherheit. Aber das stimmte nicht, jeder wusste, was mit ihm geschehen würde, auf nichts war mehr Verlass als auf das eigene Ende. Wenn ich mich vor dem Tod fürchtete, fürchtete ich mich vor meiner Leiche, der Idee meiner selbst als toter Körper. Aber diese Angst war nur ein Schild, um mich vor der größeren Angst zu bewahren, der Angst vor seiner tatsächlichen Gestalt, die eben keine Gestalt hatte, keine Form, sondern die reine Abwesenheit war. Über die Vernichtung des eigenen Körpers hinaus konnte der Mensch nicht denken, und ich besaß keine Vorstellung vom Nichts. Solange ich mir ein Bild vom Zerfall machen konnte, konnte ich auch an die Veränderung glauben, und sei es nur an jene der Würmer, die meine Augen fraßen. Doch war die Auflösung der Zellen ein Beweis des Lebens, nicht des Todes. Der Tod zeichnete nicht, veränderte nicht, er war kein Prozess, sondern ein Zustand, und Menschen, so ging mir auf, besaßen kein Bewusstsein für den Stillstand. Wir waren, genau wie die Kröten, Schlangen, Frösche, Bewegungsseher, und was zur Ruhe gekommen war, vermochten wir nicht zu erkennen. Deshalb zeichnete man die Bilder, die der Tod nicht zeichnete, man sang die Lieder, die der Tod nicht sang, die Visionen der Hölle und der Seligkeit, Choräle des Trostes und der Bitte um Gnade, und man sah die Toten, sah, wie die Lebenden krank wurden, wie sie spuckten, husteten, wie ihnen Geschwüre und Abszesse wuchsen. Sie wechselten die Farbe, ihre Haut wurde fahl und gelb und manchmal grün, sie lagen morgens im Bett mit einem blassen Grünschimmer, der sich
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