Koala: Roman (German Edition)
sich meine Freunde an der geologischen Faltenbildung begeisterten, stellte ich fest, wie selten man von Selbstmördern hörte, die eines Tages von der Bildfläche verschwanden, einen Abgrund suchten, in den sich niemand würde abseilen können, um ihren Körper zu bergen. Wenige auch, die sich im Wald in eine Mulde legten, damit das Wild sie fraß, bevor jemand ihre Überreste auffand. Die wenigsten entfernten sich spurlos, die meisten töteten sich mitten unter uns. Sie wussten: Früher oder später würde jemand auf ihre Leiche stoßen. Und wenn auch die Gründe privat sein mochten, der tote Körper war öffentlich, eine Verwaltungssache, eine gesellschaftliche Affäre. Eine Leiche musste aus dem Haus in die Gerichtsmedizin getragen werden. Es würde eine Akte anzulegen sein, doch selbst wenn die Leiche verbrannt oder vergraben war, blieb der Tote eine unerledigte Sache. Man wurde mit einem Selbstmörder nicht fertig, niemals. Daran entzündete sich mein Zorn, ich war wütend, dass ich mich nicht mit den Kindern an den Gämsen erfreuen konnte, die hoch oben von Fels zu Fels sprangen, sondern stets von neuem in den Mahlgang der Gedanken gezwungen wurde.
Nachdem ich mir wochenlang mit diesen und tausend anderen Fragen das Hirn zermartert hatte, begann ich, mit mir selbst Gespräche zu führen, und leider nicht nur leise, sondern bisweilen mit Stimme, und leider nicht nur für mich alleine, sondern bisweilen in Gesellschaft, wie etwa beim Besuch von Freunden, auf dem dortigen Klo, und leider in einer Lautstärke, die durch die Tür gedrungen sein musste, was zu einer Versammlung zunächst empörter, danach besorgter, schließlich betretener Gesichter führte. Man wollte wissen, was ich getrieben und mit wem ich mich auf dem Klo unterhalten habe. Ich antwortete nicht und ließ die Leute stehen. Das Einzige, was ich von diesen wohlmeinenden Menschen zu erwarten hatte, waren tröstende Worte, und Trost war das Letzte, dessen ich bedurfte. An seinem Tod war nichts zu bedauern. Er war nicht unausweichlich gewesen, mein Bruder hatte ihn gesucht. Die angemessene Reaktion wären Glückwünsche gewesen: Der Selbstmörder hatte Erfolg und bekommen, was er wollte.
Dabei stellte ich fest: Ich kannte mehr Freunde, die einen Verwandten durch Selbstmord verloren hatten, als ich es mir hätte vorstellen können. Sie tauchten jetzt überall auf, gaben sich, nachdem sie vom Schicksal des Bruders erfahren hatten, zu erkennen. Und waren es schon viele, deren Bruder, Schwester, Vater, Mutter oder Kind sich umgebracht hatten, so wurde die Zahl jener, die einen entfernteren Verwandten, einen Onkel, eine Tante, die Nichte oder den Neffen durch Selbstmord verloren hatten, beinahe unüberschaubar. Selbstmord, so stellte ich fest, war ein ordinärer Tod, verbreitet wie Kurzsichtigkeit. Er kam in jeder Familie vor. Und nachdem ich mich mit der Einsicht, in diesem Elend wenigstens nicht alleine zu sein, einen Abend lang getröstet und seit Wochen zum ersten Mal eine traumlose Nacht verbracht hatte, nahm ich mir vor, diese Gesellschaft zu suchen und bei der nächsten Gelegenheit das Thema des Selbstmordes zu erörtern.
Es war eine Einladung bei guten Bekannten, von Freunden konnte keine Rede sein, dazu kannte man sich nicht lange genug. Aus zuverlässiger Quelle wusste ich, dass sich die Mutter der Gastgeberin umgebracht hatte. Einzelheiten kannte ich nicht, nicht, wie lange der Selbstmord her war, ob die Tochter ein Kind oder bereits erwachsen gewesen war. Im Geheimen hoffte ich, die Sache sei frisch, denn eine vergleichbare Situation zu erörtern, also die offene Wunde zu untersuchen, schien mir erfolgversprechender. Es wäre übertrieben zu behaupten, dass ich mich auf das Gespräch freute, dazu war die Sache zu unerfreulich, aber ich wurde von einer gewissen Aufregung befallen, einer Gereiztheit, die ich lange vermisst hatte.
Nachdem wir Stunden in angenehmer, unverbindlicher Stimmung verbracht hatten, nahm ich beim Dessert meinen Mut zusammen und berichtete in einigen Sätzen vom Tod des Bruders in der Badewanne, umriss den Hergang und die mutmaßlichen Gründe. Ich wollte das Terrain bereiten und erwartete im Gegenzug einen Abriss des Todes der Mutter der Gastgeberin, damit die Prämissen geklärt seien und wir uns in die Tiefe der Auseinandersetzung stürzen konnten. Aber nichts geschah, bloß eine Stille machte sich breit. Es war, als sei ich mit einem schwer beladenen Wagen in voller Fahrt in tiefen Sand gefahren.
Und es blieb nicht
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