Koala: Roman (German Edition)
bei dieser Erfahrung. Die Gespräche verebbten, vertrockneten nach Minuten, falls sie überhaupt in Fluss kamen. Im Laufe der Wochen und Monate blickte ich in viele lange Gesichter und schaute in viele leere Blicke, und ich bemerkte, wie sich in den Zimmern, wann immer der Selbstmord zur Sprache kam, ein Schatten ausbreitete und auf die Menschen legte, ihre Stimmen bedrückte und die Blicke verfinsterte. Die Kaltschnäuzigkeit, vom Selbstmord zu einem leichteren Gesprächsthema zu wechseln, brachten nur die wenigsten auf. Der letzte Theaterbesuch interessierte nur noch wenig, und weil man sich keine Boshaftigkeiten erlaubte, aus Angst, jemanden zu verletzen, wurden auch der Klatsch und die Gerüchte fade. Jedes Thema, das der Leichtigkeit bedurfte, wurde vom Nachhall des Selbstmordes beschwert und auf Grund versenkt. Nachdem ich genügend Abende ruiniert und mir einen bestimmten Ruf erworben hatte, fügte ich mich in das Schweigen.
Für mich aber versuchte ich, die Gründe für dieses Schweigen zu finden. Zuerst deutete ich es als Folge der Schande, die der Selbstmörder nach wie vor über die Familie brachte, ein Überbleibsel jener Zeiten, da man Selbstmörder in Stücke zerteilt, am Wegrand verteilt oder zum Galgenhügel gebracht hatte, um sie mit den Mördern und Verrätern verrotten und von den Krähen fressen zu lassen. Wie in Knetzgau in Unterfranken, wo man spät im November 1608 eine Witwe erhängt in ihrer Kammer gefunden hatte. Man ließ den Henker kommen, die Leiche abschneiden und vom Dachboden aus in die Gasse werfen. Dort blieb sie von Donnerstagmorgen bis Samstagabend liegen, und weil man die Sünderin nicht neben der Kirchenmauer begraben konnte, brachte man sie zu der Siechenkapelle an der Straße nach Sand. Der Henker und seine Gesellen hatten es eilig und verscharrten die Frau mehr schlecht als recht. Bald kamen die Hunde, Leichenteile lagen an der Sonne, man hatte zu handeln. Aber keine Gemeinde duldete eine Selbstmörderin in ihrem Boden, nur ein Fass fand sich, in das man den Körper ließ und das man mit einem Ziehkärrlein an den Main brachte, um es mitsamt der armen Seele in den Fluten zu versenken.
In ein solches Fass, so sagte ich mir, in eine Tonne, die man mit einem Deckel dicht verschloss, würden auch heute die Selbstmörder gelassen, damit sie nicht nur aus der Gesellschaft der Lebenden, sondern auch aus jener der Toten entfernt würden. Der Mensch sei nicht so modern, wie er sich einrede, die Aufklärung habe höchstens teilweise Erfolg gehabt, der freie Entscheid eines freien Menschen sei für die wenigsten hinzunehmen, und wenn es heiße, der Tod sei überall und jeder könne uns das Leben, niemand aber den Tod nehmen, und wenn man vorgebe zu wissen, dass der Weise so lange lebe, wie er müsse, und nicht, solange er könne, und wenn da stehe, der Tod sei umso schöner, je mehr der Mensch ihn wolle, und wenn die Lehre gehe, dass unser Leben vom Willen anderer abhänge, der Tod aber von unserem eigenen, dann seien das Sonntagsreden, tote Buchstaben in hübschen Brevieren, undsoweiter, undsofort – ich gefiel mir in der Kritik an meinen stummen Zeitgenossen, an diesen verstockten, tumben Kerlen. Bis ich in einem Moment der Aufrichtigkeit zugeben musste, es zu halten wie alle anderen, und in dieser Sache ebenso den Mund hielt.
Aber nicht aus Schande schwieg ich, sondern weil mir zum Selbstmord meines Bruders nichts einfiel, das ich mit anderen teilen wollte. Ich hatte weder das Bedürfnis, die Umstände des Todes zu rapportieren, noch, über die Gründe für seinen Entscheid zu mutmaßen. Wer sollte sich für die Einzelheiten der letzten Momente eines unglücklichen Menschen interessieren, wer sollte sich für die Todesart interessieren – und was sollte daraus auch zu lernen, zu deuten sein?
Der Selbstmord sprach für sich, er brauchte keine Stimme, und er brauchte keinen Erzähler.
Und da ich mich in das Schweigen fand, die Gedanken aber weiter kreisten, kam ich auf die Idee, einmal zu schauen, was andere zu anderen Zeiten über diese Sache gedacht haben, und bei der Literatur um Rat zu suchen. Und stieß auf die berühmten Selbstmörder, angefangen bei Cato, jenem Gegner des Cäsar, der sich im Angesicht der unvermeidlichen Niederlage mit Platons Phaidon in sein Zelt zurückgezogen und nach einem Nickerchen um sein Schwert gebeten habe. Es mochte sich jedes Leben als Schlacht darstellen lassen, deren eigene Niederlage sicher sei, aber weiter fand ich keine Gemeinsamkeiten.
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