Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kobra

Kobra

Titel: Kobra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina Czarnowske
Vom Netzwerk:
Augen und alles ...
    Ich habe nicht mehr als zwei, drei Minuten geschlafen. Mit einem Schlag werde ich wach, von heftigem Schuldgefühl erfasst. Kein Grund zur Aufregung, sage ich mir. Es ist nichts Schlimmes geschehen. Die Blumenbeete kehren wieder an ihre Plätze zurück, ebenso der Springbrunnen und die Bänke mit den darauf sitzenden Leuten. Die Welt ist so, wie sie war. Ein paar Kinderwagen mit Säuglingen darin schaukeln rhythmisch. Ein kleiner Knirps hat sich in seinem Kinderwagen aufgerichtet, mit beiden Fäustchen die Griffe gepackt und sieht seine Mutter siegesgewiss an.
    Jemand fragt mich etwas. Ich drehe mich um. Zwei gutmütige Altmänneraugen sehen mich mitfühlend an. Ein gut gekleideter Mann. Er sitzt neben mir auf der Bank und hat offenbar etwas gefragt, das ich aus begreiflichen Gründen nicht beantwortet habe.
    „Ja, diese Dienstreisen“, sagt er. „Eigentlich ganz schön, aber auch wieder eine Last. Ich hab’s früher auch so gemacht, bin immer nachts gefahren, um den Tag zu sparen. Bloß, Sie können sich erkälten. Im Schlaf erkältet man sich am leichtesten.“ 
    Ich stottere etwas in dem Sinn, dass ich nicht auf Dienstreise bin, sondern bloß mal so vorbeigekommen, und weil es ... und so fort. 
    „So?“ Der alte Mann staunt. „Und ich hab gedacht ... ihr jungen Leute habt’s auch nicht leicht.“ 
    Für ihn bin ich jung. Ich lächle unwillkürlich.
    Der alte Mann nickt verständnisvoll. Er drängt sich nicht auf, fragt nichts, und ich möchte ein Weilchen auf der sonnigen Bank sitzen und mit ihm reden. Bloß so, ganz ruhig, ihn nach seinem Leben und seinen Erinnerungen fragen, denn wer die Kunst beherrscht, alt zu sein, der ist ein kluger Mensch. Aber das Schuldgefühl hat mich noch nicht verlassen.
    Auf dem Schreibtisch in der Dienststelle warten eine Menge Dinge auf mich. Da warten der tote Raphael Delacroix, die unbekannte Besucherin, von der bis jetzt nur die Fußspuren real sind, die Drogen im Container, Frau Nilssons französisch, Polettis Vortrag und ein paar unerklärliche Zusammentreffen von Umständen, die mir die Stimmung verderben. Und das Wichtigste ist Delacroix’s Flug mit Neumann. Ich kann nicht dasitzen und im Stadtpark mit diesem netten, alten Mann plaudern, mich von der stillen Nachmittagssonne und der Ruhe der Menschen um mich her einfangen lassen.  
    Als ich aufbreche, schickt mir der Säugling aus dem Kinderwagen einen langen Blick nach und packt die Griffe noch fester. Wer weiß, wie groß ich in seinen Augen aussehe.

9.Kapitel
     
     
    Auf dem Schreibtisch in der Dienststelle hat sich tatsächlich einiges angesammelt, kurzum eine neue Patience. Jedoch nichts Tröstliches darunter.  
    Die Analyse des Kaffees aus dem Container ist gebracht worden. Erwartungsgemäß – ein starkes Schlafmittel. Delacroix war also bereit, es in besonderen Fällen anzuwenden. Und er hat es nicht für sich selbst gebraucht.
    Das Protokoll der Gerichtsmedizin. Säuberlich im Computer geschrieben, mit der bekannt kindlichen Unterschrift Desens.
    Heute, am 18. Juli 1987, habe ich, der endunterzeichnete Dr. Alain Desens, Assistent am gerichtsmedizinischen Institut im Beisein von ... auf Verlangen von ... die Autopsie der Leiche Nummer ... vorgenommen. Bei der Untersuchung der Leiche stellte ich fest: Eine Person männlichen Geschlechts, Alter ungefähr 50 Jahre ...“ 
    Und sofort im Stil solcher Protokolle. Abermals gewinne ich die Überzeugung, dass ein persönliches Gespräch immer wertvoller ist als sämtliche Papiere.
    Jetzt hat Desens die Dinge zurückhaltend, viel zurückhaltender, dargelegt. Heute Morgen in seinem Arbeitszimmer hat er laut nachgedacht und konnte alles mögliche sagen, hier ist er gehemmt. Er hat vor dem weißen Blatt Papier gesessen und befürchtet, mich mit einer voreiligen Schlussfolgerung in die Irre zu führen. Diese Gefahr besteht nicht. In meinem Kopf schwirren alle möglichen Hypothesen durcheinander, die herumspringen, gären und mich plagen. Eine mehr hätte gar nichts zu bedeuten. 
    Ich lese das Protokoll – nichts Neues. Der Tod Raphael Delacroix’s ist gegen Mitternacht eingetreten. Vermutliche Ursache: Vergiftung mit einer hohen Dosis Morphin oder einem anderen Wirkstoff der Drogengruppe, ohne dass eine kombinierte Vergiftung auszuschließen wäre. Es fehlen jegliche Anzeichen von chronischem Morphinismus. Die Untersuchungen der Proben werden dem Protokoll beigefügt. Aber sie sind noch nicht da. 
    „Ohne dass eine kombinierte Vergiftung

Weitere Kostenlose Bücher