Köhler, Manfred
mochte, gerade dadurch hatte er dem des Redakteurs etwas voraus. Ein solcher Job würde nie hinreichend Wohlstand zulassen, um satt und faul zu machen, bewegungs- und entscheidungsunfähig, um in Routinen zu verstricken und schließlich jede Initiative und Risikobereitschaft zu erdrosseln.
Als Lothar Sahm nach drei Wochen sein Reiseführer-Manuskript abgeschlossen hatte, schrieb er zwei Briefe. Der eine ging mit seinen Texten nach Berlin und informierte den Verlag darüber, dass auch von Ellen Frey noch ein Manuskript eingehen werde oder vielleicht schon eingetroffen sei, und unabhängig davon, was Frau Frey vielleicht über die Zusammenarbeit mit ihm habe verlauten lassen, möge man sein Manuskript bitte auch berücksichtigen bei der Entscheidung, ob vielleicht doch ein Reiseführer über Alaska gemacht werde. Der zweite Brief ging an die Geschäftsleitung der Wallfelder Rundschau.
Sehr geehrter Herr Crähenberger,
hiermit kündige ich fristgerecht zur Quartalsmitte meinen Arbeitsplatz als Redakteur der Wallfelder Rundschau.
Hochachtungsvoll
Lothar Sahm
Innerlich so unbeteiligt als handle es sich um seine monatliche Überstunden-Aufstellung, legte er diesen Brief bei Dienstantritt ins Ausgangskörbchen der Redaktion.
Beschwingt ging er um 10 Uhr zu seinem ersten Termin. Das Fußpflegestudio Majas Atelier hatte die Repräsentantin einer bekannten Kosmetikfirma zu Gast, und über dieses Ereignis sollte auf Seite 2 gebührend berichtet werden. Inzwischen wusste Lothar Sahm auch, warum die Aktivitäten dieses einen Geschäftes so bedeutsam waren, dass sie keinesfalls im lokalen Datenmüll der Seiten 3 bis 5 untergehen durften: Maja Mayers zufriedenste Kundin war eine gewisse Lydia Schwanke, geborene Crähenberger. Natürlich war sie bei seinem Termin zugegen: als Vorzeige-Kundin für die Fotos. Ihre entblößten Füße wurden zur Bühne für Dramen wie den nie enden wollenden Kampf gegen das Wuchern weiblicher Hornhaut oder die Vernichtung von Hühneraugen und keilförmig nach innen wachsenden Warzen. Lothar Sahm ließ sich von Maja Mayer diktieren, welche Bedeutung der Besuch der Repräsentantin einer Kosmetik-Weltfirma für die Stadt Wallfeld habe, und auch der Repräsentantin schenkte er geduldig Gehör – bis ihm beim Stichwort Warze eine gewisse Hautauffälligkeit einfiel und mit ihr die Frage: Hätte er nicht, der Fairness halber, wenigstens erst mit Liane Czibull sprechen müssen, bevor er aus heiterem Himmel Kündigungsschreiben an die Geschäftsleitung formulierte?
Die Repräsentantin schickte sich an, unter dem Auge der Öffentlichkeit am Fuß der Kundin Schwanke eine Warzentinktur zu erproben, die im Artikel durchaus als Weltneuheit benannt werden dürfe, da zog das Auge der Öffentlichkeit seine Aufmerksamkeit abrupt zurück von dem Anblick des schrumpeligen Aufwurfes am rechten großen Zeh, der unter einer bräunlichen Flüssigkeit verschwand. Lothar Sahm packte hastig seine Sachen zusammen.
„Ich muss weg!“ – und auf und davon war er. So schnell vollzog sich der Abgang, dass die Damen nicht ein Wort des Protestes loswurden; sie mussten ihrer Empörung untereinander Luft machen.
Es war 10.21 Uhr. Der Bürobote kam bei seinem Vormittags-Rundgang immer gegen 10.30 Uhr in der Redaktion vorbei, das konnte zu schaffen sein. Lothar Sahm rannte durch die Straßen der Wallfelder Innenstadt, schließlich spurtete er. Er würde mit irgendeinem Sport anfangen, jetzt ganz sicher, das wusste er, als er durchgeschwitzt und prustend am Portal der Wallfelder Rundschau ankam. Jeder Muskel seines Körpers fühlte sich an wie ein Ballon prall voll Milchsäure, kaum kam er mit seinen zentnerschweren Beinen die Treppen hoch. 10.33 Uhr.
Im ersten Stock, direkt vor der Tür zum Arbeitszimmer des Geschäftsführers, erwischte er den Büroboten, einen großen, dicken, nervösen Mann mit zuckenden Mundwinkeln. Er wollte den Brief nicht herausgeben. Was einmal im Ausgangskorb gelandet sei, lasse sich nicht mehr aufhalten.
„Gehen Sie mal zum Briefkasten, wenn der gerade geleert wird, und wollen Sie was wiederhaben, da werden Sie aber schön was zu hören bekommen! Die Post kennt da kein Pardon! Wegen Unterschlagung von Briefgeheimnissen!“
Was Lothar Sahm nun erlebte, hätte er grundsätzlich nicht für möglich gehalten, und schon gar nicht an sich selbst: Von einer Sekunde zur anderen stürzte er von einer extremen Gemütslage in die krass gegensätzliche. Angesichts der offensichtlichen Unwiderrufbarkeit
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