Köhler, Manfred
in Wallfeld natürlich, aber in der Bezirksstadt auf 30 Kilometer Sicherheitsabstand zu verwunderten Blicken und seltsamen Fragen von Bekannten, die ihm daheim über den Weg laufen konnten. Bestens gelaunt stieg er gegen 20 Uhr aus dem Auto. Er kannte eine Pizzeria in der Fußgängerzone, dort ließ er sich zunächst an der Bar nieder. Schon das war neu für ihn, sonst drängte es ihn immer gleich an die Esstische. Heute aber wollte er in Ruhe ein Glas Wein trinken und die Lage beobachten, bevor er sich für einen Platz entscheiden würde.
Als er das Glas geleert hatte, besann er sich, bezahlte und ging. Die Tische hatten sich mit Menschen gefüllt: Familien mit Kindern, Ehepaaren, Liebespaaren, direkt neben ihm eine fröhliche Stammtischrunde. Er hätte sich irgendwo dazugesellen, zumindest fragen können, ob noch ein Platz frei wäre, aber der Gedanke schreckte ihn noch mehr als irgendwo allein zu sitzen und auf seinen Teller zu starren – oder dabei ertappt zu werden, wie er die Gäste ringsum beobachtete oder sie dabei zu ertappen, wie sie ihn beobachteten. Man konnte eben nicht überall alleine hingehen, nicht in Restaurants; Kneipen waren da besser geeignet, würde er halt dort eine Kleinigkeit essen.
Das erste Lokal in der Fußgängerzone war leer, nicht mal vom Personal war jemand zu sehen. In der zweiten Kneipe verloren sich ein paar Gäste, aber hier war es ihm zu ungemütlich. Egal, er musste sich doch nicht gleich niederlassen; machte er eben einen Kneipenbummel. Auch in die eine oder andere Disco warf er einen Blick, aber, du lieber Himmel, viel zu laut, zu grell, die Gäste entschieden zu jung und zu verrückt. Und selbst wenn er hier eine nette Frau kennengelernt hätte – mit einer Disco-Maus, was hätte daraus denn werden sollen?
Schließlich landete Lothar Sahm in einer typischen Einsame-Herzen-Bar. Das musste ihm doch nicht peinlich sein! Eine kleine private Recherchetour war das. Eine Singletreff-Geschichte hatte er noch nie auf seiner Seite 2 gehabt. Der Redakteur stellte, nach einer Stunde Schweigens in sein Bierglas, an sich selbst und den anderen fest: In einem solchen Lokal stand man derart unter Erwartungsdruck, dass es einem noch schwerer fiel als anderswo, aufeinander zuzugehen. Jeder hoffte hier, dass ein anderer den Anfang machte und damit die unterlegene Position einnahm. Oder lag sein trotziges Verharren am Platz einfach daran, dass ihm keine der Frauen hier zusagte? Wie denn auch? Er war eindeutig der jüngste im Raum und wohl auch der einzige, der nur zum Spaß hier war, zum Beobachten und allenfalls zum Test der eigenen Flirt-Tauglichkeit. Aber genug damit jetzt. Lothar Sahm bezahlte und strebte dem Foyer zu. Es entging ihm nicht, dass niemand ihn auch nur eines Blickes würdigte. Vor dem Ausgang stand eine elegante Frau, schätzungsweise gleichaltrig mit ihm. Er hielt ihr die Tür auf.
„Danke, ich warte auf jemand.“
Sie lächelte ihn kurz an und schaute dann wieder zur Straße. Er zog die Tür hinter sich zu und wollte gehen.
„Ist wohl nichts los da drinnen?“, fragte die Frau.
„Wie man es nimmt. Es sind schon einige Leute da, aber...“
„Aber jeder sitzt nur an seinem Tisch und traut sich nicht.“ Sie lachte. „Deshalb kommen wir so gern hierher, meine Freundin und ich. So kurios das klingen mag, aber ausgerechnet diese Bar ist die einzige in der Stadt, in der man nicht dauernd angemacht wird. Man kann sich unterhalten und ein bisschen schauen...“
Sie hatte ein sehr herzliches Lachen und eine warme Stimme. Eine nette Frau, blonde glatte lange Haare, fast wie Ellen, nur gepflegter. Was hatte eine Schönheit wie sie in einem Lokal wie diesem verloren?
„Wenn Sie nicht angesprochen werden wollen, warum gehen Sie dann in diese Bar?“
„Ich habe nicht gesagt, dass ich überhaupt nicht angesprochen werden will.“
Sie lächelte, und Lothar Sahm ging das Herz auf. Er lächelte zurück. Sie fragte:
„Wo wollen Sie denn noch hin?“
„Ich, ach...eigentlich habe ich kein so rechtes Ziel. Ich bin aus Wallfeld, wissen Sie, und wollte mich hier bloß mal umschauen.“
„Das hört man.“
„Was?“
„Dass Sie aus Wallfeld sind.“
Ein gutes Stichwort. Lothar Sahm hatte sich schon mal damit beschäftigt, worin eigentlich dieser kleine Unterschied in der Mundart der Menschen in dieser Stadt und denen in seiner eigenen bestand, eine interessante Fragestellung. Nur 30 Kilometer Abstand, aber selbst in den Dörfern dazwischen hörte man schon andere
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