Köhler, Manfred
anstrengen, um einzelne Wörter oder gar vollständige Sätze zu verstehen. Nicht antworten und schließlich auch gar nicht mehr zuhören, half nichts: Sie plapperte ungeniert weiter und zwang ihn alle paar Bemerkungen mit einem „Verstehst du das, Lothar?“ dazu, etwas zu erwidern. Es dauerte nicht lange, da war seine Nervenkraft erschöpft, er versuchte es auf drastische Weise: schaute ständig auf seine Uhr, schenkte ihr nicht mal mehr ein Minimum an Aufmerksamkeit, beobachtete andere Frauen, wies endlich darauf hin, dass er ja noch eine halbe Stunde Heimfahrt vor sich hatte.
In ihrem Prosecco-Zustand hatte sie für seine Ungeduld kein Ohr. Als ihr Glas halb leer war und sie den Kellner heranwinkte, um nachzubestellen, ergriff er die Gelegenheit und bezahlte. Schließlich half er ihr beim Austrinken. Sie nahm seinen Arm auf dem Weg nach draußen und hing daran wie ein fußlahmer Elefant. In diesem Moment dachte er sich noch nichts dabei. Als er sie dann aber draußen auf dem Gehsteig in ihrer Riesenhandtasche hilflos nach ihrem Autoschlüssel kramen sah, ging ihm auf: Die kann doch nicht mehr fahren!
Also bot er sich an. Sie klammerte an seinem Arm die ganzen zehn Minuten bis zu seinem Auto. Sie hatte Schluckauf. Sie rülpste gelegentlich. Sie roch faulig aus dem Mund. Sie lotste ihn auf Umwegen zu dem Reihenhausblock am Stadtrand, in dem sie wohnte. Sie kam nicht allein aus seinem Auto heraus.
Dann hing sie wieder an seinem Arm. Ob er ihr nicht die Haustür aufsperren könne? Als das vollbracht war, erbat sie sich Hilfe beim Treppensteigen. Oben angekommen, sperrte er ihr noch die Wohnungstür auf, und damit würde es ja wohl endlich geschafft sein! Kaum hatte er ihr den Rücken zugewandt, drückte sie sich von hinten an ihn, umschlang ihn und ließ ihre Hände wandern, erst etwas unbeholfen über den ganzen Oberkörper, dann auch tiefer. In dieser Haltung fiel es ihm leicht, sich jemand ganz anderes hinter sich zu wünschen, zumal er sie nicht riechen musste. Hände waren schließlich Hände, und die weiche, warme Berührung an seinem Rücken hätte auch die einer anderen Frau sein können, es hätten die Brüste von Claudia sein können, zum Beispiel. Als das Licht im Treppenhaus ausging, machte es ihm nichts mehr aus, sich in ihrer Umarmung umzudrehen. Sie standen da eine Weile, dann war er es sogar, der sie hineinzog. Er wollte es hinter sich bringen.
Ihr Prosecco-Pegel bewirkte, dass sie gleich danach einschlief. Er weckte sie, um sich zu verabschieden, im Halbschlaf trällerte sie ein albernes „Bye-bye!“, er tastete sich hinaus.
Instinktiv wollte er im Treppenhaus auf den Lichtschalter drücken, aber dann ließ er es. Wenn er Licht gemacht hätte, dann hätte er auch auf ihr Klingelschild geschaut. Er wollte aber lieber nicht wissen, wie sie nun gleich wieder hieß. Nichts wie weg hier! Auf der Heimfahrt war es noch unterdrückte Wut, die ihn beherrschte: Warum hatte es nicht Claudia sein können? Die wäre die Richtige gewesen, bei ihr hätte er sich nicht davonschleichen und bangen müssen, dass sie ihn womöglich in Wallfeld aufspürte. Mit ihr hätte es mehr werden können.
Am nächsten Tag dachte er mit einem schlechten Gewissen an den Abend in der fremden Stadt zurück. Wie würde er sich gefühlt haben, wenn eine Frau mit ihm so umgegangen wäre, aber verflixt, eigentlich hatte diese Claudia doch nichts anderes gemacht: Sie hatte in ihm Hoffnungen geweckt und ihn dann sitzen gelassen. Noch schlimmer: Wahrscheinlich hatte sie ihn, nachdem sie ihn für sich selbst rasch aussortiert hatte, zum Bleiben ganz gezielt überredet, um ihn mit ihrer Freundin zu verkuppeln.
Er schrieb über den Abend einen Übungstext, wollte in ganz neue Worte fassen, wie sich das anfühlte, wenn die Enttäuschung noch ganz frisch war, versuchte, sich schreibend zu entlocken, was ihn an dieser Dingsda eigentlich so abgestoßen hatte, was an Claudia ihn so gereizt. Und auf einmal war er wieder mitten über seiner Romangeschichte.
Von diesem Tag an gelang ihm nun, was ihm beim Reiseführerschreiben leichtgefallen, bei seinem Roman aber immer unmöglich gewesen war: regelmäßige Arbeit, jeden Tag wenigstens eine Seite, am Wochenende auch mehr. Auf einmal öffneten sich ihm seine beiden Hauptfiguren Gerhard und A., sie taten den Mund auf und sprachen zu ihm. Die Geschichte wurde sein Lebensinhalt, er begann zu ahnen, warum er sie schrieb. Er würde sich selbst begegnen inmitten des wachsenden Stapels an Seiten,
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