Köhler, Manfred
Zollkontrolle...
Ganz unvermutet aber trat ihm, als sie endlich an der Reihe waren und ihren Einreisestempel bekamen, der Gedanke in den Sinn, dass es vielleicht doch nicht unmöglich war, Sarah schon bei diesem ersten Aufenthalt kurz zu treffen. Der dringende Wunsch wurde zur fixen Idee, auf einmal konnte es nicht nur theoretisch möglich sein, es musste durchgesetzt werden. Es war kurz vor 20 Uhr. Lothar Sahm projizierte in seinem Begehren die Wallfelder Verhältnisse ein wenig potenziert auf die Millionenstadt Seattle und rechnete sich aus: Mietwagen abholen, beladen und Flughafen verlassen, zum Hotel fahren und ausladen, das alles durfte nicht länger dauern als eine Stunde, also bis 21 Uhr. Dann würde er einfach in ein Telefonbuch schauen, Sarahs Nummer finden und anrufen, man würde sich auf halbem Weg zwischen Hotel und ihrem Elternhaus treffen, so gegen 21.30 Uhr, dann blieben eine bis eineinhalb Stunden für ein Wiedersehen. Er wäre noch vor Mitternacht zurück im Hotel und morgen dann fit und ausgeschlafen für den Start im Laufe des Vormittags.
Soweit der geheime Plan. Darin nicht zu berücksichtigen war für ihn schon mal die Möglichkeit, dass auch jetzt noch, am Abend, eine Schlange von zehn Touristen den Mietwagenschalter blockieren könnte, der aber um diese Zeit natürlich nicht mehr mit vollem Personal besetzt war. So dauerte es fast eine Stunde, bis die beiden Wallfelder endlich ihr Gepäck in dem metallic-roten Microvan verstauen konnten, den Ellen von zu Hause aus reserviert hatte. Sie machte sich mit den Armaturen vertraut, während er das Koffertransportwägelchen wegbrachte. Als er einstieg, blätterte sie immer noch in der Betriebsanleitung, was er mit unwilligem Seitenblick eine Weile zur Kenntnis nahm, bis ihm die Bemerkung herausrutschte:
„Also, auf zum Hotel!“
„Willst du vielleicht fahren?“, fragte Ellen in nicht weniger genervtem Ton.
„Nein, nein, du kannst ruhig, ich meine nur, wir könnten ja jetzt mal losfahren.“
„Du fährst!“, bestimmte sie und stieg aus. Also tauschten sie die Plätze, aber auch er kam nicht umhin, erst einmal einen Blick in die Betriebsanleitung zu werfen. Bald sollte sich herausstellen, dass es nicht übel gewesen wäre, auch ein paar Grundregeln über amerikanische Straßenverkehrsverhältnisse greifbar zu haben.
„Wieso fahren die denn nicht, die haben doch rechts vor links“, schimpfte er zum Beispiel, als er das Reihumspiel an verkehrszeichenlosen Straßenkreuzungen kennenlernte. Auch Tempo, Fahrzeugdichte und Fahrgepflogenheiten im Innenstadtverkehr war er nicht ganz gewachsen. Ellen lotste ihn mit Hilfe eines Übersichtsplanes, den das Hotel für die Anfahrt geschickt hatte, aber da waren nicht die vielen Einbahnstraßen kenntlich gemacht, die aus einer scheinbar direkten Anfahrt ein einziges Geschlängel machten. Kurz nach 22 Uhr fanden sie endlich das Hotel. Parken, einchecken, ausladen – er überlegte fieberhaft, mit welcher Ausrede er sich um diese Zeit noch für zwei Stunden verdrücken konnte, ohne dass Ellen ihm komische Fragen stellen würde. Sehr gelegen kam ihm, dass sie ihre Fotoausrüstung für den nächsten Tag umzusortieren und griffbereit zu machen hatte. Das nahm sie so in Anspruch, dass sie kaum aufschaute, als er das Zimmer verließ.
„Ich gehe schnell noch was essen und vielleicht noch ein paar Schritte Richtung Innenstadt.“
„Alles klar, lass dir Zeit, ich brauche hier noch gut eine Stunde“, winkte ihn Ellen hinaus. Er war in Hochstimmung und nahm in großen Sätzen die Treppen hinunter ins Foyer. Ein Telefonbuch hatte er schon beim Einchecken in der Empfangshalle entdeckt. Svenson, Svenson, Svenson, davon gab es jede Menge – nur nicht mit der Adresse, die er von Sarah hatte. Der junge Mann an der Rezeption wusste Rat, er holte ein anderes Telefonbuch hervor, stellte für den etwas hilflosen fast-nie-Telefonierer und Handyverweigerer sogar die Verbindung her. Lothar Sahm war so euphorisch, dass er gar nicht auf die Uhr schaute. Inzwischen war es fast 22.45 Uhr, die Stimme der Frau am anderen Ende der Leitung klang wie frisch aus dem Schlaf geschreckt. Er entschuldigte sich und fragte, ob Sarah noch wach sei. War sie, aber nicht zu Hause, sie sei ausgegangen „with a friend“.
Was hieß das nun? Eine Freundin? Ein platonischer Bekannter? Oder dieser Medizinstudent? Er erfuhr den Namen des Lokals, schrieb ihn hastig auf und entschuldigte sich noch einmal für den späten Anruf, alles auf Englisch.
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