Köhler, Manfred
übernachten? Das wäre doppelt so teuer wie oben auf dem Land.“
Verkehrsgewühl stadtauswärts, noch ein paar Stunden Autobahn, damit war der erste Tag auch schon gelaufen. Er war froh, ins Bett zu kommen. Eine solche Müdigkeit hatte ihn noch nie gequält. Die innere Betäubung saß derart tief, sie lähmte jeden klaren Gedanken, jede Freude, jegliche Aufbruchsstimmung.
Am Tag darauf ging es ihm wesentlich besser, und so suchte er, nach der Genugtuung überzogenen Protestliegens im Anschluss an ihre erneute Morgen-Garstigkeit mit dem dauersummenden Wecker, den Ausgleich mit seiner Reisegefährtin. Er hakte den ersten Tag als der Zeitumstellung geopfert ab, erst jetzt ging es richtig los. Beim ersten Foto-Stopp des Tages begann er Ellen freundlich-interessiert auszufragen.
„Warum hast du gestern diese Totempfähle so ausgiebig fotografiert? So besonders waren die doch auch nicht.“
„Weil die eine der Hauptattraktionen in Vancouver sind. Die kommen in jedem Bildband oder Reiseführer über West-Kanada vor.“
Sie fotografierte gerade hochkonzentriert eine alte Scheune mit durchgedrücktem Dach, ringsum Gewoge eines Weizenfeldes, tiefblauer Himmel, der Horizont weiß gezackt von ersten Bergketten.
„Aber wenn die Dinger überall schon drin sind, dann brauchst du sie doch nicht auch noch mal.“
„Die vom Verlag erwarten dieses Motiv aber, genauso wie Berge, Bären, endlose Wälder...“
„Und was ist an dieser Scheune so toll?“
Ellen bestrafte ihn mit einem mitleidigen Blick.
„Wenn du das nicht selber siehst und erkennst, kann ich es dir auch nicht erklären. Hol mir mal bitte einen neuen Film aus meiner Tasche im Auto!“
Sie hatte erstmals „Bitte!“ gesagt, was er hochwohlwollend auf seinem Friedenskonto verbuchte. Er überreichte ihr den Film –„Bitte!“, „Danke!“ –, schaute ihr eine Weile zu, kam zu der Ansicht, sie brauche noch länger, startete seinen Laptop, um einige neue Aspekte für seine Romanidee zusammenzufassen, da war sie auch schon fertig, ungenutzt meldete er den Computer wieder ab.
War ihr die alte Scheune, wie es sie rings um Wallfeld seiner Meinung nach zu Dutzenden gab, eine gute Stunde Wert gewesen, so fand Ellen nun einen halben Tag lang nichts beachtenswert genug, um überhaupt als Motiv in Erwägung gezogen zu werden. Immer knapp an der Höchstgeschwindigkeit bretterte sie nach Norden, angehalten wurde nur zum Tanken oder bei dringenden Bedürfnissen, und nur bei solchen Notgedrungen-Stopps hatte er Gelegenheit, auch mal was Warmes zu essen; sie war offenbar in der Lage, ausschließlich von Low-Fat- oder sonstigen grausig schmeckenden Gesundheits-Riegeln zu existieren.
Am Nachmittag, endlich, war wieder ein Ziel erreicht, das sie aufgrund von Informationen in Reiseführern als mögliche Motivquelle ausgeschaut hatte. Diesmal war auch er begeistert: Das Freilichtmuseum Barkerville war kein künstlicher Vergnügungspark, sondern eine echte, alte, liebevoll erhaltene beziehungsweise originalgetreu wiederhergestellte Goldgräberstadt.
„In zwei Stunden wieder am Eingang“, schlug Ellen vor. „Dann können wir, wenn es sich lohnt, immer noch eine Stunde dranhängen.“
Er war einverstanden, die beiden trennten sich. Sie marschierte, beladen mit ihren Kameras und Stativen, zielstrebig in Richtung Kirche, er war in seiner Begeisterung zunächst ratlos, wo er anfangen sollte. Vom Eingangsbereich her genoss er eine Weile den Anblick der Hauptstraße mit ihren bunten Wild-West-Fassaden, dann schlenderte er blindlings los. Schon nach ein paar Ecken traf er auf eine der losen Touristengruppen, die hier von Schauspielern in historischen Kostümen durch die Straßen geführt wurden. Er hörte eine Weile zu, wollte mehr hören, schloss sich an. Die Touristenführer – eine auffallend attraktive Frau mit üppigem Reifrock und zwei seehundbärtige Männer – erzählten nicht aus heutiger Sicht die Geschichte der Stadt, sie verkörperten drei frühere Einwohner und spielten mit großem Tamtam kleine Szenen aus deren Leben. Das ging so weit, dass sie ihre Rollen am Ende der Führung konsequent beibehielten. Für die Fotos, die manche Touristen von ihnen machen wollten, verfielen sie in eine grotesk erstarrte Haltung, es dauerte eine Weile, bis Lothar Sahm begriff: Genauso posierten die Menschen vor 100 Jahren für die Kamera, um das Bild nicht zu verwackeln. Er wartete ab, bis die Gruppe sich verlaufen hatte, um die Schauspieler ein wenig über ihren Job
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