Köhler, Manfred
die Welten waren, in denen sie und er lebten, räumlich und gesellschaftlich; mehr als das aber trennte sie das Alter. Das war der große Widerspruch dieser Bekanntschaft: Er hatte sich überhaupt nur mit ihr anfreunden können, weil sie eine Fremde in seiner Stadt und in seinem Land war, ein Mensch im luftleeren Raum, der froh war um jeden Halt; wäre sie in Wallfeld geboren und aufgewachsen und ihm irgendwann begegnet, die Kluft zwischen den Generationen, die Unvereinbarkeit ihres mit seinem Freundeskreis hätte ausgeschlossen, dass sie sich näher gekommen wären. Ein Wiedersehen konnte nur ernüchternd ausfallen.
Und auf einmal wurde ihm auch unwohl vor den vier Wochen totalen Zusammenseins mit Ellen. Er fand sie nett und interessant. Die beiden waren sich nähergekommen in den langen Wochen der Reiseplanung, sie waren inzwischen gute Freunde. Aber da war auch etwas an ihr, das ihn zurückschrecken ließ. So richtig wurde ihm das bewusst, als er am Vorabend der Reise ihr Gepäck abholen kam, um am Morgen Zeit zu sparen. Ellen war fast fertig. Zum Einladen bereit stand ihre magere Reisetasche mit ihren persönlichen Sachen, auch ihr gewaltiger Seesack voller Stative und stoßfest in Alukoffer verpackten Kamerazubehörs war fest verschnürt; ihr Handgepäck, eine altmodische Klapptasche mit Fächern für Kameras und Objektive, stand offenen Deckels und belegt bis auf ein Fach vor dem Wohnwagen.
Ellen fotografierte. Vor ihr auf einer Wiese saß auf einem Hocker eine alte Frau. Die braun-grauen Haare hingen ihr strähnig ins zerfurchte Gesicht, der Wind spielte damit. Durch die Abendsonne wirkte jede kleine Falte wie tief ins Gesicht gemeißelt. Reglos saß die alte Frau auf ihrem Hocker und schweigend, auch Ellen verrichtete stumm ihre Arbeit.
„Die Fotos sind wohl ein Geschenk für ihre Familie?“, fragte er schließlich, als Ellen auch diese Kamera in ihrer Klapptasche verstaute und das letzte ihrer drei Gepäckstücke sorgfältig schloss. Er sah der alten Frau hinterher, die in ihrer ausgewaschenen blassbunten Schürze mit ganz vorsichtigen Schritten sich den Campingplatz abwärts bewegte, Schritt vor, anderes Bein nachziehen, Schritt vor, anderes Bein nachziehen; jede Bewegung tat ihr kleine Qualen an, die sichtlich schon lange zu ihrem Leben gehörten.
„Ach geh“, sagte Ellen, „da hätte ich ganz anders fotografiert, nicht so realistisch. Das ist ein Langzeit-Experiment. Komm mit, ich zeig’s dir.“
Aus einer Schublade im Arbeitsbereich ihres Wohnwagens zog sie eine prall gefüllte Mappe mit experimentellen Fotos. Einer der Stapel in Klarsichthüllen gebündelter Themenschwerpunkte gehörte der alten Frau, immer wieder das gleiche Schwarzweiß-Motiv im Falten kerbenden Abendlicht, Hintergrund verschwommen, mal heller, mal dunkler, immer die gleiche Schürze, mal wehten die Haare im Wind, mal hingen sie ins Gesicht.
„Ich habe sie kennengelernt, als ich vor vier Jahren hierher gezogen bin, sie war 82. Seitdem haben wir jeden Monat ein Foto gemacht, im August werden es 50, hoffentlich. Mich fasziniert das, schau mal, zwischen den Monaten kein sichtbarer Unterschied, eine scheinbar lückenlose Reihe, aber wenn du zwischen den Jahren vergleichst oder gar das erste Foto mit dem letzten vor einem Monat, da, schau’s dir an...!“
Sie fächerte die Fotos auf. Er war verblüfft über das Wechselspiel von Veränderung und Ähnlichkeit. Fast alles hatte in den vier Jahren sichtbar an Lebendigkeit und Spannkraft verloren, der Ton der Haare und ihr Halt, die Würde im Ausdruck des Blickes, das Strahlen der Augen, Hautoberfläche und Körperhaltung...
„Und jetzt frage ich dich: Bei all der Veränderung, die ihr selbst nicht bewusst ist, sie will die Fotos nämlich nicht sehen – was ist es, das die Frau sich dennoch so ähnlich macht über die Jahre hinweg? Und ich frage dich: Könnte man die Seele abbilden, wie verhielte es sich da mit Niedergang und Bewahrung der Form?“
Sie tippte ihm mit dem Finger gegen die Brust.
„Was verändert sich da in dir drin durch schieres Altern oder durch aufwühlende Erlebnisse? Was kannst du selbst verändern? Und was bleibt immer gleich?“
Ellen packte die Fotos zusammen und verstaute sie an ihrem Platz.
„Eigentlich“, sagte sie, und er erwartete, geistig noch ganz in die Bilder der alten Frau versunken, eine Antwort auf die von ihr aufgeworfenen Fragen. „Eigentlich könntest du doch gleich hier übernachten. Hast du dein Gepäck dabei?“
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