Köhler, Manfred
Zweitnamen.
„Das war der Bruder meiner Mutter“, antwortete er sachlich, „Onkel Gerd, ein Oberschlesier. Von ihm habe ich mein Haus geerbt.“
Ellen kicherte unterdrückt.
„Was ist daran so witzig?“
„Du siehst unmöglich aus auf diesem Passbild. Zum Glück hast du jetzt die Haare kurz.“
Auf der Dirtroad durch Hyder, ein Örtchen, das sich durch sein Geisterstadt-Flair sehr wohl von den schmucken Siedlungen unterschied, die er in Kanada gesehen hatte, und dann auf dem weiteren Weg hinauf zum Gletscher ging etwas in Lothar Sahm vor, das nach Ausdruck drängte. Derweil Ellen weiterhin kaum zum Fahren kam, so viele Motive entdeckte sie in allen Richtungen, begann er sich Notizen zu machen. Am Rand des Gletschers schließlich, nachdem er sich sattgesehen hatte am blendend hellen Eis, fing er an zu schreiben. Nicht zum Selbstzweck – vielleicht würde ein Reisemagazin sich dafür interessieren.
Als Ellen zurückkam, erschöpft, durchfroren, randvoll des flüchtigen Glücks erfüllten Sehnens und schon jetzt, Mitte der zweiten Woche, am Ende eines Dreiviertels ihrer 400 Filme, ging er seinen Text auf Tippfehler durch.
„Was hast du geschrieben?“
Bereitwillig drehte er ihr seinen Laptop hin und ließ sie lesen.
„Das ist schön, wirklich, vor allem der letzte Satz“, urteilte Ellen, als sie zu Ende gelesen hatte, ehrlich ergriffen – und zudem erfreut und erleichtert darüber, dass er ihr damit ihre Entscheidung bestätigt hatte. Für einige Minuten herrschte Harmonie zwischen den beiden Reisepartnern, es berührten sich ihre Seelen.
Das völlige Einverständnis war bald wieder dahin. Doch es hielt sich ein wohltuender, auf festem Fundament ruhender Frieden. Für die folgenden zwei Wochen kam man einfach sehr gut miteinander aus, tagsüber unterwegs wie auch nachts im Bett. Man gewöhnte sich an die Merkwürdigkeiten des anderen, die man anfangs noch von allen Seiten betrachtet und heimlich mit den eigenen verglichen hatte, und zum Alltag wurde auch die Reise selbst.
Als Vancouver näherrückte, machte sich Lothar Sahm schreibend seine Gedanken über die verstörende Erkenntnis, dass er die ersten Tage in Kanada bis in die Einzelheiten gewahr hatte, die mittleren und späten Tage ihm aber entglitten. Was war vorige Woche, die Woche davor? Er wusste nicht mal mehr, wie die Orte hießen, durch die sie vor einem Tag gekommen waren! Aber die Landung in Seattle, seine tief sitzende Müdigkeit, die ersten Streitigkeiten, Vancouver, Ellens fotografisches Getue um die alte Scheune, der Postkartenkauf in Dawson Creek, der erste Straßenrand-Bär der Reise, das alles war so vielfältig, so plastisch und gefühlsintensiv, so dauerhaft, so nah.
Übrigens hatte er Sarahs Postkarte noch immer in der Tasche. Nicht, dass ihm das erst wieder einfiel, als sie die beiden Texaner trafen; aber da fiel es ihm so richtig auf.
Diese letzte, für Lothar Sahm besonders aufwühlende Highway-Begegnung der Reise ereignete sich auf einem Parkplatz nahe des Großraums Vancouver. Ellen und er gingen, im Auto sitzend, anhand eines Reiseführers die Sehenswürdigkeiten der Stadt durch, um zu entscheiden, wie der knapp bemessene zweite Aufenthalt am gewinnbringendsten in beider Sinn zu nutzen sei, da klopfte ein Mann mit schwarzer Nietenjacke und weißem Stetson an das Fenster auf Ellens Seite. Ob sie sich verfahren hätten, fragte er, ob er helfen könne...
Lothar Sahms erster Gedanke: Ein Parkplatz-Gangster! Bloß nicht aussteigen! Da hatte Ellen schon ihre Tür aufgestoßen.
Zu seiner Cowboy-Maskerade an Oberkörper und Kopf trug dieser Mensch auch noch Westernstiefel und eine klobige Gürtelschnalle mit aufwändigem Prärie-Relief. Als sei ihm daran gelegen, seine O-Beine besonders zu betonen, saßen die Jeans wie auf die Haut genäht. Lothar Sahm unterdrückte seinen ersten Impuls, sich das Erscheinungsbild des knittergesichtigen Männchens zu notieren – es war so klischeehaft, dass man es sich auch leicht hätte ausdenken können, es aber als unglaubwürdig verworfen hätte. Ellen dagegen packte eine Kamera aus.
„Oh no, stop, wait a minute, please!“
Wenn schon ein Foto gemacht werden sollte, dann nur zusammen mit seinem Bruder. Er deutete mit dem Kinn in Richtung zweier Pickups auf der anderen Seite des Parkplatzes, die beide bepackt waren bis weit über die von den Seitenteilen vorgegebene Ladefläche. An einen der Wagen war ein Jeep als Anhänger gekoppelt. Unter alten Decken zeichneten sich Möbel ab,
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