Köhler, Manfred
sich von ihm, und so ignorierte er den Inhalt ihres Vorschlages und machte seine Schärfe zum Thema:
„Lass doch deine Wut übers Wetter nicht immer an mir aus! Ich kann nichts für die Wolken.“
Sie ging dankbar in diese Richtung mit und seufzte ihren Groll mit einem Blick zum Himmel heraus. Inzwischen hatte es auch noch angefangen zu nieseln. Ellen klappte ihr Stativ zusammen.
„Tut mir leid. Ich glaube, es ist besser, wir fahren weiter.“
Die nächste größere Meinungsverschiedenheit der Reise war nicht so schnell mit einem versöhnlichen Wort beendet, sie mündete einmal mehr in eine Phase eisigen Schweigens; die Versöhnung war dafür um so gefühlsintensiver – und die kleine Episode sollte Folgen haben, mit denen keiner der beiden jemals gerechnet hätte.
Es ging um einen Abstecher zum Salmon Glacier, dem fünftgrößten Gletscher der Welt, nach Ellens Meinung ein Muss für ihr Projekt. Allerdings war dieser Gletscher nur sehr umständlich zu erreichen. Er lag im südöstlichsten Teil des Pfannenstiels von Alaska. Die 130 Kilometer vom Highway aus dorthin führten nicht geradeaus, sondern nach einer Spitzkehre beinahe in die gleiche Richtung wie die, aus der man zunächst gekommen sein würde, nur auf der anderen Seite einer Gebirgskette und das auf bekanntermaßen miserabler Piste. Am Gletscher war Sackgasse, also hatte man die 130 Kilometer zum Ausgangspunkt auf der gleichen Strecke zurückzufahren.
Nun hatte Lothar Sahm schon mal nicht allzu viel übrig für Eis und Schnee und sah nicht ein, warum er sich mitten im Sommer ein paar Stunden Winter antun sollte; zudem verstieß der verschlungene, blind endende Anfahrtsweg gegen sein ausgeprägtes Empfinden für Zielstrebigkeit, Geschlossenheit und Sinn: Schon oben bei Whitehorse hatte ihm allein die Tatsache, mitten auf dem Alaska Highway abbrechen und einen anderen Weg einschlagen zu müssen, statt der Straße bis zu ihrer Bestimmung folgen zu können, fast mehr zugesetzt, als es ihn gequält hatte, sich damit vom Ziel seiner Sehnsüchte wieder zu entfernen. Ellen konnte seinen Standpunkt nicht nachvollziehen, so sehr sie auch die Stirn runzelte.
„Dann hättest du die ganze Reise nicht mitmachen dürfen. Die führt ja auch nicht von A nach B, sondern im Kreis herum zum Ausgangspunkt.“
„Das ist was anderes, schließlich fahren wir nicht ein und denselben Highway hoch und hinunter, sondern auf ganz anderen Straßen wieder zurück, es wiederholt sich nichts.“
„Aber du wolltest doch die ganze Zeit nach Alaska, jetzt hast du Gelegenheit dazu.“
„Die paar Kilometer! Ich wollte ins Kernland und weit hinauf, die Mitternachtssonne sehen – und nicht hier unten ein bisschen in den Pfannenstiel. Da ist es doch auch nicht anders als hier.“
So sah das also aus – Ellen meinte, den Grund des Aufstandes zu durchschauen: Er trug ihr heimlich das Umkehren in Whitehorse nach. Querulantentum aufgrund schwelender Unversöhnlichkeit, so was hasste sie. Sie stellte ihn vor die Wahl:
„Also, du kannst jetzt hier sitzen bleiben und warten, bis ich wiederkomme, vermutlich so in fünf, sechs, sieben, acht oder mehr Stunden, oder du kannst mitfahren. Was ist dir lieber?“
Er fuhr mit. Schon auf kanadischer Seite der Strecke gab es reichlich zu staunen, alle paar Meilen sah sich Ellen zu Fotostopps veranlasst, und kein einziges Mal musste er ihr innerlich widersprechen. Der Highway war gesäumt von blau leuchtenden Gletschern und umschlichen von geisterhaften Nebelschwaden, die aus moos- und flechtenverfilzten Urwäldern und wuchtigen Felskonstruktionen hervorquollen. Turmhohe Eismassive kalbten in graue Gebirgsseen, ihre Schollen trieben an der Straße entlang wie gläserne Schiffe. Gigantisch aufgetürmte Schneeklumpen schienen hier auch den wärmsten Sommer zu überdauern. Besonders faszinierend war ein jedes Jahr wiederkehrender, wie von Menschenhand geformter Trichter, sein oberer Ausläufer klemmte dünn wie ein Gebirgsbach in einer Felsrinne und häufte sich davor zu einem überhängenden geometrischen Körper, der so wuchtig war wie ein mehrstöckiges Haus. Lothar Sahm kam aus dem Staunen nicht heraus, und so war er bereits wieder sehr zugänglich, als zwischen den Orten Stewart und Hyder die Grenze nach Alaska zu passieren war.
„Gibst du mir bitte mal deinen Pass?“
Er kramte das steife rote Heftchen aus dem Bauchbeutel, schlug es auf und reichte es ihr.
„Lothar Gerhard Sahm“, las sie mit fragender Betonung auf dem
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