Köhler, Manfred
nördlichsten Punkt der Reise gab es erstmals wieder Zank.
Whitehorse, die Hauptstadt Yukons, war kein allzu sehenswertes Städtchen und bemerkenswert für Lothar Sahm nur dadurch, dass die 24.000 Einwohner mehr als zwei Drittel der Gesamtbevölkerung der gewaltigen kanadischen Provinz ausmachten – und dass er hier dem Land am nächsten war, von dem er träumte. Nach einer kurzen Stadtbesichtigung fuhren sie hoch zur Abzweigung des Klondike Highways vom Alaska Highway, danach sollte umgekehrt werden, zurück Richtung Vancouver. Der Klondike Highway führte weiter nach Dawson City, der legendären Goldgräberstadt, der Alaska Highway nach Fairbanks in der Mitte Alaskas. Lothar Sahm wusste nicht, in welche der beiden Richtungen er lieber gefahren wäre, er wusste nur eines: Zurück wollte er auf keinen Fall!
Ellen fotografierte die Hinweisschilder, dann entdeckte sie im Straßengraben irgendwelche lila Blümchen und knipste sich daran fest. Er stand daneben und sah ihr eine Weile zu, derweil ein Auto nach dem anderen an ihm vorbei in Richtungen fuhr, in die es auch ihn zog. Ein grauer Schatten nahm plötzlich Licht und Wärme, Ellen richtete reflexartig ihren Wolken-Hass-Blick zum Himmel. Er wählte sich die Unterbrechung zum Anlass, sehr freundlich zu fragen:
„Wachsen diese Blumen nicht auch bei uns daheim?“
„Nein.“
„Aber so ähnliche.“
„Kann sein.“
„Lohnt es sich denn dann, wegen denen hier so viel Aufwand zu betreiben?“
Ellens Blick wurde noch finsterer.
„Meinst du nicht, dass deine Kollegen schon oft über Kreistagssitzungen, Hochzeitsmessen und Senioren-Kaffeefahrten geschrieben haben?“
Er brummte nur statt eine Antwort zu geben. Das waren wieder Vergleiche!
„Aber lohnt es sich denn dann“, fragte sie voll übertriebenen Erstaunens, „dass du auch noch einmal über diese Themen schreibst? So ein Aufwand!“
„Schon gut.“
Er ließ sie machen und zog sich zum Auto zurück. Das nächste Wolkenloch war fern, er startete seinen Laptop. Er wollte seine Sehnsucht nach dem Norden in Worte fassen. Das Go-West-Feeling hatte er immer nachvollziehen können, „Go North!“ war ihm fremd gewesen – bis jetzt. Er erwog, seine Hauptfiguren Gerhard und A. statt in die Kernstaaten der USA nach Alaska auswandern zu lassen. Vielleicht würde ihnen hier oben der Neuanfang harmonischer gelingen, war doch kein Land besser geeignet, sich von äußeren und inneren Zwängen zu befreien. Hier waren noch Improvisation gefragt und echter Pioniergeist. Plötzlich fiel ihm etwas auf: In welche Situationen er seine Figuren auch hineindachte, egal an welchem Ort er sie welche Umstände auch immer antreffen ließ, stets lief die Geschichte auf Trennung hinaus. Dabei meinte er es doch als sein zentrales Thema erkannt zu haben, die beiden Liebenden sich durch die neue Welt ganz neu entdecken zu lassen, in ihren Gemeinsamkeiten wie in ihren Unterschieden, und sie damit dauerhaft zusammenzuschweißen. Sie liebten sich, er erachtete sie als füreinander bestimmt. Warum nur wurde aus ihnen kein glückliches Paar?
Er beschloss, es anders zu versuchen: Sie gerieten nahe an eine Trennung, entdeckten dadurch erst richtig, was sie einander bedeuteten – und dann Happy End. Das hielt er in Stichpunkten fest, dann blinkte schon wieder die Batterie-Anzeige, Minuten später verabschiedete sich der Laptop mit einem leisen Stöhnen.
Ellen wartete noch immer auf Sonnenlicht. Er stieg aus und half ihr dabei, beschwörend den Himmel anzustarren.
„Was hältst du eigentlich davon, noch ein Stück weiter hoch zu fahren? Wir haben doch noch Zeit. In Alaska gibt es sicher auch tolle Motive für dich.“
„Mein Thema ist aber nicht Alaska, sondern Kanada.“
„Ach so ist das, ja richtig, dein Thema“, fügte er sich in diese Begründung, als höre er sie zum ersten Mal und sehe sie sofort ein. Das brachte Ellens Wolkenfrust zur Entladung.
„Was hältst du eigentlich davon, dass wir uns hier trennen? Wenn du dich so nach dem Norden sehnst, dann kannst du dir doch in Whitehorse ein Auto mieten und allein da oben herumgurken. Wir treffen uns in zwei Wochen in Seattle.“
In dem Augenblick, in dem sie ihm diesen Vorschlag entgegengewitterte, bereute sie ihn schon, er sah es in ihren Augen; und auch ihm erschien es nur für einen Augenblick verlockend, auf eigene Faust durch den Norden zu stromern. Es reizte ihn, was sprach dagegen? Es sprach dagegen, dass er sich genauso wenig von Ellen trennen wollte wie sie
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