Köhler, Manfred
darauf festgezurrt waren Koffer und Taschen, und auf dem einen der beiden Transportfahrzeuge thronte eine Hundehütte, aus der ein Rottweiler herausblinzelte. Daneben hockte, kaugummikauend, der Bruder, unverkennbar blutsverwandt und noch kitschiger angezogen. Zu Cowboystiefeln, Cowboyhut und Röhrenjeans trug er ein verschnörkeltes Countrysängerhemd und darüber eine reich verzierte Jeansjacke.
Ellen verknipste einen ganzen Film an die beiden Zirkusfiguren, vor allem das Motiv Hund mit Hundehütte auf Auto begeisterte sie; dann drängte es Lothar Sahm, ein paar Fragen zu stellen. Die Antworten und die offene, freundliche Art, in der sie gegeben wurden, ließen ihn erröten. Zum Glück würden die beiden nie erfahren, mit welchen Charakterisierungen er sich gedanklich über sie geäußert hatte.
Das also waren Joe und Peter Call aus Dallas in Texas. Sie fuhren in großen Etappen. Am Morgen waren sie in Seattle gestartet, dort hatten sie eine von bislang zwei Pannen gehabt; in drei Tagen wollten sie in Anchorage in Alaska sein und sich nach einer Bleibe umschauen.
Ellen und er hatten viele interessante Menschen kennengelernt im Laufe der Reise; diese beiden Kerle aber ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Was er von ihnen gehört hatte, war einfach fantastisch: alles hinter sich lassen, dorthin fahren, wo die Sehnsüchte wohnen, sich dort dann ansiedeln, wo es einem gerade gefällt, ganz neu anfangen – ein neues Leben!
Er schrieb auch über diese Begegnung, in einer Seitenstraße Vancouvers wartend, er hatte mal wieder das Auto zu bewachen. Er war nicht böse darum, der Text lag ihm auf der Seele. Als die kleine Geschichte auf der Festplatte ruhte, kramte er die an Sarah adressierte Karte hervor. Mit einem Gefühl der Erleichterung und zugleich tiefsten Bedauerns stellte er fest, dass es zu spät war, die Nachricht abzuschicken.
Eine andere Entscheidung stand an, und die ließ sich nicht wochenlang hinschieben: Sollte er sich ein Internetcafé suchen und vorab eine Mail schreiben oder Sarah anrufen? Diese Frage beschäftigte ihn auf der Fahrt von Vancouver nach Seattle. Schließlich entschied er, das Mailen sein zu lassen und eine Kontaktaufnahme vor Ort von Ellen abhängig zu machen: Würde sie auf Fototour gehen wollen, und sei es nur für ein paar Stunden, dann würde er Sarah anrufen. Wenn nicht, dann würde er den Lauf der Dinge zum Anlass nehmen, seine Träumereien rund um diese viel zu junge Amerikanerin zu begraben. Es war leicht für ihn, die Entscheidung zu fällen: Ellen in einer Stadt wie Seattle ohne exzessiv zu fotografieren, das war unvorstellbar.
„Du hast doch gestern irgendwas geschrieben.“
„Wie, was?“
Ellen drehte das Radio leiser.
„Gestern in Vancouver, als du im Auto auf mich gewartet hast. Was war es denn, was du geschrieben hast?“
„Ach so, ja, über die zwei Brüder, die Texaner.“
„Liest du es mir vor?“
„Ja, klar.“
Er kramte seinen Laptop heraus, startete ihn und rief die Datei auf.
Von Texas nach Alaska
Das alte Leben ist zu Ende, das neue hat gerade begonnen. Die Brüder Joe und Peter Call aus Dallas in Texas sind unterwegs nach Alaska, um dort noch einmal bei Null anzufangen. Erst vor drei Tagen haben sie ihr Haus samt der meisten Möbel verkauft, ihre restlichen Habseligkeiten zusammengepackt und Peters Jeep als Anhänger an Joes Pickup gekoppelt. Auf der Ladefläche des Pickups lässt Peters Rottweiler Boss die Fahrt in seiner Hundehütte über sich ergehen.
„Es war einfach Zeit für einen Neuanfang“, sagt Joe. Damit meint der 34jährige vordergründig das Gefühl von „Jetzt-oder-nie!“, das ihn umtreibt, seit er die Lebensmitte vor Augen hat: eingefahrene Gleise verlassen, mal ausprobieren, wie es sich außerhalb von Texas lebt. Den Begriff „Neuanfang“ verbindet er aber auch mit einem konkreten Anlass. Beide Brüder sind geschieden. Zuerst ging Peters Ehe in die Brüche. Als wenig später dann auch Joe sich von seiner Frau trennte, zog er bei Peter und dessen Sohn ein. Als Peters Junge 18 wurde und den Dreimännerhaushalt verließ, gab es nichts mehr, was die Brüder in Texas noch hielt.
Über ihre Zukunft in Alaska machen sich die beiden nicht viele Gedanken, und auch zwei Pannen unterwegs dorthin können ihnen die Laune nicht verderben. Erste Anlaufstation in der neuen Heimat soll Anchorage sein. Wo sie sich dann auf Dauer niederlassen, wird sich zeigen. Als gelernte Elektriker rechnen sie sich gute Chancen für einen beruflichen
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