Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Köhler, Manfred

Köhler, Manfred

Titel: Köhler, Manfred Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irrtümlich sesshaft
Vom Netzwerk:
hinaus in die Nacht. Ellen folgte ihm zur Tür, sie hielt ihm vorwurfsvoll sein Papier entgegen. Er sah sie, von unten herauf, im Gegenlicht des Wohnwageninnern als Scherenschnitt, rings herum Dunkelheit.
    „Das ist ja nur eine Seite!“
    „Mehr ging heute nicht. Ich kann meinen Job nicht total vernachlässigen.“
    Er wollte sich abwenden. Ellen sprang hinaus und hielt ihn am Ärmel fest.
    „Ich sage dir jetzt was: Vielleicht hätte ich es dir gleich sagen sollen, aber ich dachte, du bist auch so schon motiviert genug. Der Verlag will nächstes Jahr einen Reiseführer über Alaska machen. Wenn ihnen unsere Arbeit über Kanada gefällt, dann haben wir den Auftrag.“
    „Warum hast du mir das nicht längst schon gesagt?“, empörte er sich.
    „Weil es noch ungewiss ist.“
    „Du hast vielleicht ein Verständnis von Partnerschaft!“
    Er riss sich von ihr los, drehte sich um und stampfte den Weg hinunter in die Dunkelheit.
    „Was ist denn nun?“, rief ihm Ellen hinterher.
    „Keine Sorge, du bekommst deine Texte.“
    Am nächsten Abend hatte er fünf Seiten dabei, und alles, was darauf zu lesen war, erwies sich als zu Ellens Zufriedenheit; er selbst war mehr als nur zufrieden. Zeitdruck und Panik, so sehr sie ihn plagten, er lief erst beim Gedanken, etwas nicht zu schaffen, zu bester Form auf. Der Streit war damit beigelegt, für den Rest der Zeit bis zur Abgabe zogen Ellen und er an einem Strang.

Kapitel 8: Blick in den Abgrund
     
    „Lass liegen, Sigi!“
    Stadtstreicher Sigi, gerade im Begriff, ein angenagtes halbes Brötchen vom Pflaster der Wallfelder Fußgängerzone zu klauben, zieht die Hand zurück.
    „Wenn du Hunger hast, dann sag’s mir einfach, ich kauf dir doch was“, bietet ihm sein Pennbruder-Kumpel, der über mehr Mittel zu verfügen scheint, gönnerhaft an. Sigis glasige Augen glänzen. Triefender Lippen torkelt er zur Imbissbude.
    Verlassen wir die Szene. Denn viel interessanter als Sigis Bratwurst-Orgie ist, was dem angenagten Brötchen widerfährt.
    Dieses Brötchen nämlich bleibt keineswegs unbeachtet auf dem Pflaster der Fußgängerzone liegen. Spitze Schnäbel zerhacken es, kaum dass sich Sigis Fahne verzogen hat, in ein Meer von kleinen Bröseln; Augenblicke später ist auch der letzte Krümel vertilgt. Die Tauben aber sind davon keineswegs gesättigt. Mit gierigen Glotzaugen staksen sie zwischen den Beinen der Passanten umher, picken hier, hacken dort; fallen auch über große Brocken her, zerpicken, zerteilen, zerhacken sie, verschlingen sie in Sekundenschnelle: gefiederte Piranhas der Fußgängerzone. Stürzen sich über alles, was fressbar ist, wie jene blutrünstigen Raubfische amazonischer Urwaldgewässer. Oh Schreck!
    Hüte dich, Sigi, wenn du dich des Nachts auf deiner Parkbank wälzt; hüte dich, verstrickt in einem Alptraum von der Bank zu plumpsen! Und dann, hilfloses Stück Fleisch, auf dem Boden zu liegen. Du könntest enden wie jenes angenagte Brötchen.
    Amazonisch, das musste er noch nachprüfen – gab es dieses Wort? Ansonsten, na ja, er hatte schon schlechtere Glossen geschrieben. Und die Einstiegs-Szene hatte er sogar, weitgehend wie beschrieben, in seiner Mittagspause in der Fußgängerzone erlebt. Lothar Sahm machte sich, es war noch über eine Stunde bis zum Feierabend, auf den Weg zu Liane Czibulls Büro. Vielleicht würde er endlich mal früher gehen und wenigstens eine Überstunde tilgen können.
    So abgründig ihr Charakter war, ihre Launen trug diese Frau so offen zur Schau, dass man schon beim Anklopfen zuverlässig einschätzen konnte, wie man dran war. An diesem Tag erklang ein fröhliches „Ja, bitte?“, und da wusste er schon, dass er nicht mehr allzu lange würde schmoren müssen. Sie würde die Glosse absegnen und ihn in den Feierabend schicken.
    „Da kommt ja unser Herr Sahm“, begrüßte sie ihn überschwänglich und stand sogar auf dabei. Sie war nicht allein in ihrem Büro. Auf einem der Besucherstühle hockte, mit breit gespreizten Beinen und einen abstoßenden Atem verbreitend, ein Mann mit Pfannkuchengesicht und buntbefleckten, ehemals weißen Arbeitshosen. Selbst im alle Gerüche dominierenden Zigarettenqualm dieses Zimmers war eine Mischung aus Schweiß und scharfen Lösungsmitteln nicht zu überriechen, und das machte Lothar Sahm diesen Mann nicht gerade auf Anhieb sympathisch.
    „Darf ich vorstellen: Aureos Boreal – unser Top-Redakteur Lothar Sahm.“
    „Wie bitte?“, fragte er erstaunt.
    „Das ist nicht übertrieben“,

Weitere Kostenlose Bücher