Kölner Kulissen
genug vor, dass man zu einem Spielfilm-Casting eingeladen wird. Noch dazu für einen Kinofilm, nicht für irgendeine billige Fernsehproduktion. Aber niemand spricht über das Drehbuch, niemand spricht über die Charaktere, denen noch Gesichter fehlen. Und doch sieht Paula es in den Augen all der Kolleginnen und Kollegen in diesem Raum: ihre Nervosität, ihre Gier nach der Rolle.
Ob die anderen in ihren Augen noch mehr lesen? Die wahren Gründe für Paulas Nervosität? Sie selbst begreift kaum, wie sie hierherkommen konnte. Aber soll sie wegen letzter Nacht diese Chance vorbeiziehen lassen? Die erste echte Chance seit Jahren? Nein, sie hat lange genug darauf gewartet. Als Franziska, ihre Agentin, sie gegen Mittag angerufen hat, hat Paula nicht eine Sekunde gezögert, sich für das Casting zurechtzumachen. Normalerweise wird man nicht so kurzfristig eingeladen.
»Der Drehbuchautor will dich«, hat Franziska am Telefon gesagt. »Nachdem jemand anderes abgesagt hat.«
Man lädt sie also erst zum Casting ein, wenn eine andere Schauspielerin die Rolle abgelehnt hat. Paula hat ihre Enttäuschung hinuntergeschluckt. Besser zweite Wahl als gar nicht beachtet. Und dass der Drehbuchautor sie will, kann doch nur gute Karten bedeuten.
Aber sich auf ihren Atem und ihre Haltung zu konzentrieren, wie sie es sonst zur Vorbereitung tut, gelingt ihr heute einfach nicht. In Gedanken sieht sie ständig den geöffneten Rucksack mit dem verschweißten Kokainbeutel darin. Und Vico in der roten Lache neben seinem Sofa. Sie zittert vor Anstrengung bei dem Versuch, diese Bilder aus ihrem Kopf zu vertreiben. Sie hofft, dass die anderen ihr Zittern als Nervosität wegen der Aussicht auf die Rolle deuten. Obwohl das dem Verhaltenskodex widerspricht und sie reichlich uncool wirken lässt. Denn alle hier sind es gewohnt, Masken zu tragen – auch wenn keine Kamera läuft. Und fast ärgert es Paula, dass ihr das heute nicht gelingt, fast lässt es sie an ihrer Professionalität zweifeln. Eine Schauspielerin muss eine Maske jederzeit so überzeugend tragen können, dass ihr wahres Gesicht dahinter verschwindet. Wenn Paula spielt, muss es wirken, als gäbe sie der Figur nicht nur ihr Gesicht, ihren Körper und ihre Stimme – es muss aussehen, als wäre Paula dieser Mensch. Das ist mehr als Darstellung, mehr als Spiel.
Heute aber ist die Maske zu schwer. Sie sieht Vico in einem Gemisch aus Rotwein und Blut liegen. Mittlerweile hat ihn zweifellos jemand gefunden. Ob sich die Nachricht von seinem Tod noch während des Castings unter den Kollegen verbreiten wird? Durch den Zigarettenrauch beobachtet sie die anderen. Zwei oder drei kennt sie von gemeinsamen Drehs. Manche hat sie im Kino gesehen. Die meisten sind ihr jedoch unbekannt. Zu ihrem Missfallen spricht Linda Pasek für dieselbe Rolle vor. Paula hat sie beim Casting für den Spülmittel-Werbespot ausgestochen. Aber Linda hat darüber nicht besonders traurig gewirkt. Sie ist drei Jahre jünger als Paula, ebenfalls dunkelhaarig und sportlich. Gerade sorgt sie für Furore in einer Bühnenfassung von »Anna Karenina«. Paula hat seit dem Werbespot weder etwas gedreht noch auf der Bühne gestanden.
Am anderen Ende des Raums unterhält sich Linda mit einer Kollegin, die Paula nicht persönlich kennt. Aber sie weiß, dass Vico sie mit Koks beliefert hat. So wie viele andere auch. Mit den Einnahmen aus seinen Fernsehaufträgen hat er seinen Lebensstil längst nicht mehr finanzieren können. Und das, weiß Paula, ist Teil ihres Problems. Wenn das Koks in Vicos Wohnung zum Weiterverkauf bestimmt war, dann war es nicht Vicos Eigentum. Und jemand wird danach suchen.
Eine Produktionsassistentin ruft Vicos Kundin in einen Nebenraum. Linda Pasek wünscht ihr Glück und wendet sich ab. Ihr Blick schweift über die Gesichter und findet Paulas. Sie kommt auf sie zu und hält Paula ihre geöffnete Zigarettenschachtel unter die Nase.
»Magst du eine?«
Paulas Nervensystem giert nach Nikotin. »Danke, ich hab aufgehört«, sagt sie.
»Sollte ich auch.« Linda lächelt gequält. »Wäre besser für meine Haut.«
Paula betrachtet das Gesicht der gefeierten Anna Karenina. Ihre Haut wirkt so weich und rein wie die eines Säuglings. Genussvoll zieht Linda an ihrer Zigarette. Paula erinnert sich an ihren letzten Blick in den Spiegel, bevor sie hierhergefahren ist. Beinahe hätte sie den Termin daraufhin noch abgesagt.
»Kennst du Jakob?«, fragt Linda.
Paula hat keine Ahnung, von wem sie spricht.
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