Kölner Kulissen
vorbei ist, gibt sie Linda Paseks Namen bei Google ein. Hundertachtundzwanzigtausend Einträge. Paula traut sich nicht, nach ihrem eigenen Namen zu suchen und die Zahlen zu vergleichen. Stattdessen klickt sie auf den Link zu Lindas Website. Den Hintergrund der Startseite bildet eine Presseaufnahme von den Proben zu »Anna Karenina«: Linda wendet sich auf der Bühne von allen anderen Darstellern ab. Hinter ihr wirken sie nur wie Requisiten.
»Billig«, murmelt Paula, klickt zurück auf die Suchmaschine und gibt Jakob Singers Namen ein. Immerhin einer, der noch keine eigene Website besitzt. Dafür findet sie einen Eintrag über ihn bei Wikipedia.
Wie lächerlich, denkt sie beim Blick auf die kurze Liste seiner Filme. Gerade einmal zwei Kurzfilme und ein Spielfilm, allesamt Studentenarbeiten. Wer schreibt Artikel über solche »Persönlichkeiten«?
Okay, auch über sie selbst gibt es einen Artikel in dem Online-Lexikon. Anselm hat die erste Version geschrieben. Seitdem wurde der Eintrag mehrfach von Fremden überarbeitet. Aber immerhin kann Paula auf eine dreizehnjährige Karriere und den Gewinn mehrerer Preise zurückblicken. »Sonnenwende« war 1999 beim Festival in Cannes nominiert. Damals war Singer dreizehn Jahre alt. Heute ist er sechsundzwanzig, so alt wie Vico, als »Sonnenwende« in die Kinos kam.
Paulas Nacken wird immer steifer, je länger sie auf den Bildschirm starrt. Ihr ist kalt, dabei hat sie eben auf dem Balkon noch geschwitzt. Es macht doch keinen Sinn, noch mehr Zeit zu schinden, sagt sie sich. Es kann doch nur von Vorteil sein, zu wissen, ob die Öffentlichkeit schon von Vicos Tod erfahren hat. Früher oder später wird man ihr vielleicht Fragen stellen. Dann darf sie nur erzählen, was durch die Medien gegangen ist. Mit jeder Kleinigkeit, die über die offizielle Berichterstattung hinausgeht, muss sie sich verdächtig machen.
Sie gibt die Webadresse vom Express ein. Wenn überhaupt jemand Bescheid weiß, dann sind es die Schmierfinken der Boulevardblätter. Wie schon seit Tagen stehen die Neuigkeiten aus dem Quartier der Fußball-Nationalmannschaft an oberster Stelle. Darunter eine Meldung, wonach Männer, die häufig Sojaprodukte essen, weniger Spermien produzieren als andere. Dann schließlich die Meldung:
Unfall oder Mord?
Regisseur tot in Villa gefunden
Köln – Blutiges Ende eines Künstlerlebens. Am Morgen wurde der Film- und Fernsehregisseur Vico Cramer tot in seiner Villa im Kölner Süden gefunden. Nach Angaben der Polizei erlag Cramer den Folgen einer Kopfverletzung. Ob ein Unfall zu der Verletzung führte oder ob Gewalt im Spiel war, lasse sich noch nicht eindeutig sagen, so ein Polizeisprecher. Cramer machte sich seit Ende der neunziger Jahre durch Filme wie »Sonnenwende« und »Um jeden Preis« einen Namen. In den letzten Jahren blieben größere Leinwanderfolge aus. Die Kriminalpolizei ermittelt.
Jetzt ist es also bekannt. Wie lange schon? Beim Casting hat es noch niemand gewusst, sonst hätte man darüber gesprochen. Darf sie sich jetzt ruhig verhalten? Oder soll sie jemandem mitteilen, wie geschockt sie von der Nachricht sei? Es wäre unvernünftig, so zu tun, als wisse sie von nichts. Aber jetzt zu telefonieren kann sie sich nicht vorstellen. Sie zittert schon wieder, wahrscheinlich würde auch ihre Stimme zittern. Zwar würde das zur Rolle passen, aber sie glaubt einfach nicht, dass sie jetzt überhaupt telefonieren könnte. Nein, sie wird E-Mails schreiben, an Julia und an Anselm.
Sie öffnet ihr E-Mail-Postfach. Drei neue Nachrichten:
Edgar G. Ulmer:
Fotos
Heute,17.08 Uhr
Konstantin Farkas:
Italien
Heute,13.59 Uhr
Dieter Bomke:
neue Staffel
Heute,11.24 Uhr
Julia hat also recht, Dieter Bomke scheint ihr eine Rolle anbieten zu wollen. Wenigstens eine gute Nachricht an diesem Tag. Nach dem heutigen Casting empfindet sie sogar ein Rollenangebot für »Stadt am Fluss« als Chance. Immerhin lebt Julia gut davon.
Sie hebt sich Bomkes E-Mail für später auf und öffnet zuerst Konstantins Nachricht. Er schreibt, der Heimleiter plane auch in diesem Jahr wieder eine Reise. Mit einigen Bewohnern will er nach Italien fahren, und dieses Mal dürfe Konstantin mit. Im September gehe es für zwei Wochen in die Toskana. Paula steigen Tränen in die Augen. Vor zehn Jahren ist Konstantin monatelang um die ganze Welt getrampt. Jetzt freut er sich auf diese kurze Reise wie ein Kind. Sie nimmt sich vor, dem Heimleiter einen Brief zu schreiben. Keine E-Mail, einen richtigen
Weitere Kostenlose Bücher