Kölner Kulissen
sie sich darüber. Singers Casting-Methoden mögen albern sein, aber vielleicht hat Linda Pasek trotzdem recht. Vielleicht wird sein Film ein Erfolg. Und vielleicht hätte Paula sich deshalb etwas interessierter geben sollen. Und kooperativer. Nach Jahren ohne Kinofilm kann sie es sich nicht leisten, wählerisch zu sein. Wenn das so weitergeht, wird sie auch kaum mehr Angebote für Werbung erhalten. An dem Klipp-und-klar-Spot hat sie gut verdient. Allerdings ist der größte Teil des Honorars in Konstantins Therapie geflossen.
Lange hat sie ihn nicht mehr besucht, zuletzt an Weihnachten. Seit zwei Jahren lebt ihr Bruder nun in dem Pflegeheim in der niedersächsischen Provinz. Sie haben es gemeinsam ausgewählt, als er noch laufen konnte. Es leben dort kaum dreißig Bewohner. Nur einmal hat Paula sie »Patienten« genannt, und sofort hat Konstantin sie zurechtgewiesen. Bewohner , nicht Patienten . Das sei wichtig, darauf legten sie Wert. Seitdem achtet Paula peinlich genau auf ihre Wortwahl. Allerdings versteht sie den Sinn dieser Unterscheidung nicht.
Sind Konstantin und die anderen Heimbewohner etwa nicht krank? Lässt sich durch das Vermeiden von Wörtern wie »Patient« ihre Krankheit leugnen? Nur einen einzigen Bewohner, der noch nicht im Rollstuhl sitzt, hat Paula bisher kennengelernt. In Gestalt seiner Mitbewohner, deren Zustand sich nicht verbessert, hat Konstantin sein Schicksal ständig vor Augen. Ist es da nicht Selbstbetrug, die Dinge nicht beim Namen zu nennen? Ist das nicht beinahe so, als würde man »Aubergine« sagen, obwohl man eigentlich meint: »Bitte, geh!«?
Paula schiebt die Gedanken an ihren Bruder beiseite – so gut das eben geht. Sie schämt sich. Gerade jetzt, da sie schon länger keine Rollen bekommt, hätte sie Zeit, sich um Konstantin zu kümmern. Ihn wenigstens ab und zu in seinem kleinen Zimmer zu besuchen. An den Wänden dort gibt es kaum noch einen freien Quadratzentimeter. Überall hängen Konstantins Bilder, seine Miniaturen in Öl: Tiere und Menschen, kaum größer als ein Fingernagel und doch so detailliert, dass man am Gesichtsausdruck oder der Haltung ihren Charakter erkennt. Die Bilder sind von früher. Konstantin kann längst keinen Pinsel mehr sicher halten. Aber er liebt es, Paula von der Entstehung seiner Gemälde zu erzählen, wenn sie an seinem Bett sitzt. Es ist das Beste, was sie für ihn tun kann. Das erkennt sie in seinen Augen, sobald sie sein Zimmer betritt. Doch anstatt hin und wieder die dreihundert Kilometer zu fahren, hat sie dem Pflegeheim mehrere tausend Euro überwiesen, den größten Teil ihres Werbehonorars.
Heute gelingt es ihr schnell, nicht mehr an Konstantin zu denken. Noch immer liegt der Krokodillederrucksack in ihrem Schlafzimmer. Und darin das Päckchen. Sie hat es auf ihre Küchenwaage gelegt. Fast ein halbes Kilo. Sobald Vicos Tod bekannt ist, wird jemand danach suchen. Sie dreht sich auf ihrem Stuhl um und sieht durch die Glastür des Balkons. Die Küchenuhr zeigt zehn nach fünf. Die Radionachrichten sind also gerade vorbei. Sie steht auf, um im Internet nach Neuigkeiten zu suchen.
An ihrem Schreibtisch traut sie sich plötzlich nicht mehr. Minutenlang liegen ihre Hände bewegungslos auf der Tastatur des Computers. Schließlich zwingt sie sich dazu, ihn einzuschalten. Doch anstatt nach Nachrichten über Vicos Tod zu suchen, gibt sie die Adresse ihrer eigenen Website ein. Im Intro sieht sie sich selbst als menschliche Marionette: An Fäden wird sie über eine Bühne gelenkt. Sie hat den kurzen Film extra für ihre Website drehen lassen. Dafür ist der Rest des Klipp-und-klar-Honorars draufgegangen.
Anselm hat ihr davon abgeraten. »Das ist nicht selbstbewusst genug«, hat er behauptet. »Als Schauspielerin bist du doch keine willenlose Puppe.«
Aber Paula gefällt der Film. Ob er ihrem Image geschadet hat? Sie weiß noch nicht einmal, ob sich die Website überhaupt auf ihre Karriere auswirkt. Eine Rolle hat ihr jedenfalls bis jetzt noch kein Besucher der Website angeboten. Immerhin erhält sie Fan-E-Mails an die dort angegebene Adresse. Anfangs hat sie sich davon belästigt gefühlt. Männer, die sie zum Essen einladen wollen und versichern, an ihr »als Mensch« interessiert zu sein. »Als was denn sonst?«, antwortet sie in solchen Fällen und lehnt die Einladungen ab. Mittlerweile erhält sie jedoch immer seltener E-Mails von Verehrern. Und sie muss sich gestehen, dass ihr das noch weniger gefällt.
Noch bevor das Marionetten-Intro
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