Kölner Kulissen
den wichtigsten Männern in der Region gehört. Hanna stellt sich vor, wie sie Kadric mit dem Fall Cramer endlich den Boden unter den Füßen wegzieht. Wäre das nicht ein angemessenes Geschenk zur Pensionierung ihres Vaters?
Sie blättert weiter, bis sie Cramers ebenso gleichmäßige wie winzige Buchstaben nicht mehr entziffern kann. Draußen beginnt es zu dämmern. Sie steht vom Küchentisch auf, knipst das Licht an und streckt sich. Ihr Nacken tut weh. Aus dem Wohnzimmer hört sie den Fernseher. Sie geht hinüber.
Marek hat eine zweite Flasche Wein entkorkt. Sie ist zu drei Vierteln leer. Hanna setzt sich neben ihn aufs Sofa und trinkt einen Schluck aus seinem Glas. Im Fernsehen jagt ein Mann eine junge Frau in einem Sommerkleid über eine Wiese. Hanna kann nicht erkennen, ob die beiden ein Spiel spielen oder ob die Frau aus Angst vor dem Mann flieht.
»Fertig?«, fragt Marek.
Sie zieht ihre Beine zum Oberkörper und rückt näher zu ihm. »Ich weiß noch nicht. Was siehst du dir an?«
»Ist gleich vorbei.«
Er legt einen Arm um sie und zieht sie noch näher heran. Das tut gut. Warum ist sie nicht längst zu ihm herübergekommen?
»Ich hab dich gerufen, als der Film angefangen hat«, sagt er. »Aber du hast mich wohl nicht gehört.«
Nein, sie kann sich nicht daran erinnern. Sie lehnt ihren Kopf an seine Schulter. Auf dem Bildschirm stolpert die Frau über ihr Kleid und fällt ins hohe Gras. Hanna schließt die Augen.
Marek streichelt ihre Schulter. »Ist nämlich von diesem Regisseur, der Film«, sagt er und drückt ihr einen Kuss auf die Schläfe. Seine Hand wandert unter ihre Achsel und weiter zu ihrer linken Brust. Sein Atem riecht nach Wein. »Krämer oder wie er heißt. Sie zeigen den Film anlässlich seines Todes.«
Hanna schlägt die Augen wieder auf. »Der Film ist von Vico Cramer?«
»Genau, so heißt er.« Marek beginnt, ihre Brust zu massieren. Die Frau auf der Wiese ist wieder auf die Beine gekommen. Schnitt auf ihren Verfolger: Der Mann verlangsamt seinen Schritt. Offenbar hat er sie fast erreicht. Man sieht ihn im Gegenlicht. Die Sonne steht am sommerblauen Himmel genau über seinem Kopf. So ist sein Gesicht nicht zu erkennen. Gegenschnitt auf die Frau, Nahaufnahme: Sie dreht sich um, sieht den Mann an, sieht direkt in die Kamera. Hanna setzt sich gerade hin. Mareks Hand rutscht hinunter zu ihrer Hüfte.
»Die hab ich heute gesehen«, sagt sie.
»Paula Farkas?«
»Du kennst ihren Namen?«
»Tolle Schauspielerin«, sagt er und lässt seine Hand ruhen, wo sie ist.
Hübsche Schauspielerin, denkt Hanna und sagt: »Sie war heute bei Cramers Beerdigung.«
»Hat ja auch mehrere Filme mit ihm gedreht.«
»Seit wann kennst du dich so gut aus?«
Er zuckt mit den Schultern und versucht, seine Hand wieder in die vorherige Position zu bringen. »Ich kenne sie eben.«
Seit einer halben Minute zeigt die Kamera nun schon das Gesicht der Schauspielerin.
Der Film muss bereits einige Jahre alt sein. Paula Farkas sieht darin jünger aus als heute Nachmittag auf dem Friedhof. Aber auch in ihrer schlichten Trauerkleidung war sie attraktiv. Beneidenswert attraktiv.
Hanna spürt Mareks Hand an ihrer Brust. Er will sie zu sich ziehen. Aber Hanna beugt sich zum Fernseher vor. Noch immer erfolgt kein Schnitt. Die langsame Kamerafahrt in Richtung ihres Gesichts suggeriert das Näherkommen des Mannes, der die Frau über die Wiese verfolgt hat. Ebenso nah ist Hanna der Schauspielerin vor wenigen Stunden gewesen. Sie erinnert sich an den Augenblick, als die beiden sich auf dem Friedhof in die Augen gesehen haben.
Dann wird der Bildschirm dunkel. Das Letzte, was Hanna während der langsamen Abblende von Paula Farkas sieht, sind ihre Augen. Musik setzt ein. Der Film ist vorbei.
»Kommst du mit ins Bett?«, fragt Marek und versucht wieder, sie zu sich zu ziehen.
Sie steht auf. »Ich glaube, ich sollte noch was tun.«
SIEBEN
Es irritiert sie, wie ruhig sie äußerlich wirkt. Seit Tagen tut sie nichts, das sie unter anderen Umständen nicht auch getan hätte. Sie geht ins Fitnessstudio, telefoniert mit ihrer Agentin, antwortet Dieter Bomke auf seine E-Mail wegen einer Rolle in »Stadt am Fluss«, vereinbart einen Termin mit ihm in der kommenden Woche, schreibt einen Brief an den Leiter von Konstantins Pflegeheim und einen weiteren Brief an Konstantin selbst, studiert die Wohnungsanzeigen und besichtigt sogar zwei Wohnungen, trifft sich mit Julia in einem Café, sortiert endlich mal ein paar alte Kleider aus
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