Kölner Kulissen
herausgeschrien hat, überkommt sie Erschöpfung. Jeder Muskel ihres Körpers scheint zu erschlaffen. Nur mit Mühe hält sie sich auf dem Küchenstuhl. Als das Telefon klingelt, fühlt sie sich zu schwach, um aufzustehen und den Hörer abzuheben. Der Weg ins Wohnzimmer, wo das Telefon steht, ist viel zu weit. Sie lässt es klingeln, zehn-, fünfzehnmal. Sie weiß nicht, wie lange die darauf folgende Pause dauert. Sie starrt den Kühlschrank an und versucht, nicht an ihren Vater zu denken. Ihn sich nicht mit diesen verkleideten Leuten vorzustellen, halb nackt, in unterwürfiger Pose und doch mit einem genussvollen Lächeln im Gesicht. Was hatte Kadrics Mann gesagt?
Ich versichere Ihnen, Frau Sydow, im Kreis Ihrer Kollegen ist Ihr Vater nicht der Einzige, von dem wir solche oder ähnliche Fotos besitzen.
Sie schaut auf das Foto von Marek, das sie mit einem Magneten an der Kühlschranktür befestigt hat. Darauf schneidet er eine Grimasse, verdreht die Augen und streckt die Zunge heraus. Das Bild ist Silvester entstanden. Bisher fand Hanna es lustig. Nur noch selten ist Marek so albern. Jetzt scheint es ihr, als wolle er sie auf dem Foto verhöhnen. Als mache er sich insgeheim über sie lustig. Hanna ertappt sich bei der Frage, ob auch Marek geheime Vorlieben hat, von denen sie besser nichts wissen möchte.
Unsinn, redet sie sich ein. Schlimm genug, dass dieses Arschloch ihr die Fotos von ihrem Vater gezeigt hat. Aber das ist noch kein Grund, sich selbst etwas über ihren Mann einzureden.
Wieder klingelt das Telefon. Hanna stützt sich auf der Tischkante ab, steht auf, geht ins Wohnzimmer und sieht auf das Display des Telefons. Die Nummer ihrer Eltern. Nein, bestimmt wird sie den Hörer nicht abheben, nicht jetzt. Sie lässt es klingeln, vielleicht zwanzigmal. Dann ist es endlich still.
Und mit der eintretenden Stille überwindet Hanna ihre Lethargie. Bis Marek und Lukas zurückkommen, bügelt sie die restliche Wäsche, spült das Frühstücksgeschirr ab und saugt in allen Zimmern Staub. Währenddessen klingelt das Telefon noch zweimal. Sie geht noch nicht einmal ins Wohnzimmer, um die Nummer vom Display abzulesen. Reden hilft jetzt sicher nicht weiter. Das beste Mittel gegen Kummer ist Arbeit. Wer hat das gesagt? Vielleicht Hemingway, denkt sie, aber sicher ist sie nicht. Früher hat sie viel von ihm gelesen. Noch etwas, das sie von ihrem Vater übernommen hat. Marek hat einmal gesagt, diese Hemingway-Leidenschaft sei nicht normal für eine Frau. »Diese Macho-Geschichten! All die Großwildjäger, Boxer, Stierkämpfer …«
»Ich bin eben keine normale Frau«, hat sie damals geantwortet und Marek herausfordernd angelächelt.
Und er hat ihr zugestimmt. Das war vor Lukas’ Geburt. In letzter Zeit liest sie nur noch selten.
Als Marek schließlich beladen mit Einkaufstüten im Flur steht, sieht er sie vorwurfsvoll an. Auch Lukas trägt rechts und links Plastiktüten.
»Warum gehst du nicht ans Telefon?«, fragt Marek anstelle eines Grußes. Das Auto sei vorm Supermarkt nicht mehr angesprungen. Sein T-Shirt hat dunkle Flecken unter den Achseln und auf der Brust.
Lukas lässt die Tüten fallen. Eine kippt auf die Seite. Konservendosen rollen über den Fußboden. Wortlos läuft Lukas an Hanna vorbei in die Küche. Dort reißt er den Kühlschrank auf und trinkt gierig aus einer Apfelsaftflasche. Sein blondes Haar klebt schweißnass auf der Stirn und im Nacken. Hanna will ihm über den Kopf streichen. Doch Lukas schiebt ihren Arm weg und trinkt beidhändig weiter.
»Warum habt ihr nicht die U-Bahn genommen?«, ist alles, was ihr einfällt.
»Das haben wir«, erwidert Marek. »Nachdem wir zwanzig Minuten bis zur Station gelaufen sind. Ist dir klar, dass draußen achtundzwanzig Grad im Schatten sind?«
»Was hätte ich denn tun können?«
»Was du hättest tun können?« Er geht einen Schritt auf sie zu. »Du hättest uns mit deinem Auto abholen können. Mit deinem klimatisierten Dienstwagen! Verdammt, warum bist du nicht ans Telefon gegangen?«
»Ich hab’s nicht gehört! Wahrscheinlich hatte ich den Staubsauger an. Wie lange willst du jetzt schon in den ADAC eintreten?! Ist schließlich nicht das erste Mal, dass dein Wagen nicht anspringt!«
»Und wie lange versprichst du schon, deine Kollegen aus der Werkstatt zu bitten, sich den Anlasser anzusehen?«
»Warum hast du nicht einfach ein Taxi gerufen? Mal wieder zu geizig, was? Lieber lässt du Lukas die Einkäufe schleppen!«
» Ich soll ein Taxi nehmen,
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