Kölner Kulissen
abwarten, wie sich die Dinge entwickeln. Sie will etwas tun.
Als sie an einer Touristengruppe vorbeikommt, schauen zwei ältere Frauen auf Paulas Sporttasche und runzeln die Stirn.
Paula hört den Reiseführer sagen: »Die Farbdichte des neuen Fensters zwingt dem Betrachter keine Deutung auf. Mit der Anordnung der Farbflächen wagt der Künstler den Zusammenprall von Zufall und Kalkül. Wenn Sie das Kunstwerk betrachten, werden Sie nichts Festes, keine Ordnung im Chaos erkennen. Richters Fenster bleibt rätselhaft, die Anordnung der Farbquadrate nicht greifbar. So versinnbildlicht dieses Kunstwerk das Geheimnis Gottes.«
Paula hat die Auseinandersetzung um das neue Domfenster mit Interesse und Verwunderung verfolgt. Ihr persönlich gefällt, dass der Künstler mit einem Zufallsgenerator gearbeitet hat, um die farbigen Glasquadrate anzuordnen. Für sie drückt diese Arbeitsweise das Eingeständnis der Unvorhersehbarkeit aller Dinge aus. Zwar macht diese Unvorhersehbarkeit ihr selbst und dem Rest der Menschheit das Leben schwer. Wie hätte Paula zum Beispiel das Auftauchen der Kommissarin ahnen sollen? Andererseits sind bei einem unvorhersehbaren Schicksal auch glückliche Zufälle nicht ausgeschlossen. In vielen Filmen kommt es allein durch solche glücklichen Zufälle zum Happy End. Zugegeben, in schlechten Filmen häufen sich die Zufälle unmäßig. Aber wie hat sie doch erst vorgestern Humphrey Bogart sagen hören? »Das Leben benimmt sich manchmal so, als ob es zu viele schlechte Filme gesehen hätte.«
Sie lässt die Reisegruppe hinter sich und steuert durch den Mittelgang auf den Ausgang zu. Dabei hält sie den Blick gesenkt. Ob Hanna Sydow ihr in den Dom gefolgt ist oder sie draußen erwartet, weiß sie nicht. Die Mailänder Madonna betrachtend, hat Paula verstanden, dass die Flucht vor der Kommissarin ihr Problem nicht lösen würde. Im Gegenteil, sie muss sie im Schlepptau behalten und aus der Innenstadt weglocken. Weg vom Fotofix-Automaten und dem Schlüssel darin. Weit weg vom Schließfach und von Vicos Rucksack.
Zwischen Touristen hindurch drängelt Paula sich nach draußen. Dort bleibt sie ein paar Sekunden stehen, jedoch ohne den Blick zu heben. Sie will die Kommissarin nicht sehen. Aber sie will von ihr gesehen werden.
Entschlossen wendet sie sich dann nach rechts. Auf den breiten vom Dom zum Bahnhof hinabführenden Treppenstufen wirft sie einem Obdachlosen einen Euro in seinen Pappbecher. Im Bahnhof sucht sie den Zeitschriftenladen auf. Minutenlang vergleicht sie diverse Magazine, bevor sie sich für eine Fitnesszeitschrift entscheidet. Nie zuvor hat sie einen Blick in so ein Blatt geworfen. Sie stopft die Zeitschrift in ein Seitenfach ihrer Sporttasche und steuert eine Parfümerie an. Dort verbringt sie weitere fünf Minuten. Von der Verkäuferin lässt sie sich verschiedene Cremes empfehlen, ohne am Ende eine davon zu kaufen. Auf dem Weg zu den Imbisslokalen wirft sie einen flüchtigen Blick auf die Uhr: zehn vor vier. Ein bisschen Zeit muss sie noch schinden. Sie tut so, als könne sie sich nicht zwischen Pizza oder Döner entscheiden. Schließlich kauft sie ein Fischbrötchen und geht zum Reisecenter. Am Fahrkartenschalter lässt sie sich eine Zugverbindung zu dem kleinen Ort nahe Celle heraussuchen, in dem Konstantin im Pflegeheim lebt.
Endlich, Punkt vier, geht sie zu den S-Bahnsteigen. Am oberen Ende der Rolltreppe wagt sie einen schnellen Blick nach unten. Ja, da ist Hanna Sydow. Eine S-Bahn in Richtung Düsseldorf hält neben Paula. Sie steigt ein, sucht sich einen Sitzplatz am Fenster und zieht die Zeitschrift aus ihrer Sporttasche. Sie muss sich zwingen, nicht über den Rand des Heftes zu schauen. Einmal versucht sie, in den Spiegelungen des Fensterglases die Gestalt der Kommissarin zu entdecken. Doch das ist aussichtslos.
Erst zwischen Worringen und Dormagen wagt Paula, sich kurz umzudrehen. Sie hat Hanna Sydows Stimme erkannt, nachdem das Klingeln eines Mobiltelefons den S-Bahn-Waggon erfüllt hat. Die Kommissarin steht am anderen Ende des Waggons, flucht und tritt gegen einen Sitz. Rasch sieht Paula wieder in ihre Zeitschrift. Doch kurz darauf spürt sie Hanna Sydows Blick im Nacken. Möglich, dass die Kommissarin näher gekommen ist, dass sie nun direkt hinter Paula steht und sie mit ihrem Blick aufspießt. Möglich auch, dass sie noch am anderen Ende des Waggons steht, dass jedoch auf der dazwischenliegenden Strecke ihr Blick nichts von seinem Zorn verliert.
Als die S-Bahn den
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