Koenig Arsch - Mein Leben als Kunde
nach Zustellbereichen. Noch heute kann ich im Schlaf aufzählen, welche Straße zu welchem der fünf Ortsteile gehört.
Völlig klar, wo ich mein erstes Girokonto eröffnete: bei meinem ersten Arbeitgeber. Das Unternehmen war ein Freund des Kunden. In jeder Dorffiliale gab es einen Waldemar. Die Briefträger hielten mit ihren Kunden Schwätzchen. An jeder zweiten Ecke hing ein Briefkas ten. Nachsendeanträge wurden kostenlos ausgeführt, Telefonbücher frei Haus geliefert, und die Postlagerung gehörte zum Service.
Mein Ferien-Arbeitsplatz grenzte direkt an den Filialraum. Ich hörte die Kundengespräche meines Onkels mit. Betrat ein Einheimischer die Filiale, wurde er mit Namen begrüßt, in eine nette Plauderei verwickelt und in allen Versand- und Sparfragen aufs Gründlichste beraten (manchmal etwas zu gründlich, fürchte ich, denn mein Onkel hielt mit seinen neuesten Erkenntnissen nie hinterm Berg).
Einmal hörte ich, wie eine Kundin Waldemar ein Päckchen reichte. Der sagte: »Das fühlt sich an, als wäre da nur ein Buch drin.«
»Stimmt«, sagte sie.
»Auch noch ein persönlicher Brief dabei?«
»Nein, das geht an eine alte Freundin, ich hab’s ihr per Telefon angekündigt.«
»Warum haben Sie keine Büchersendung daraus gemacht? Damit hätten Sie über die Hälfte des Portos sparen können!«
»Wenn ich das gewusst hätte!«
Das nächste, was ich hörte, war ein Ritsch-Ratsch – Waldemar hatte den Umschlag aufgerissen, einen anderen unter seinem Tresen hervorgezaubert, und nun hielt er einen kleinen Fachvortrag, warum eine Büchersendung nur mit leicht aufzubiegenden Klammern verschlossen werden durfte. Die Kundin bedankte sich tausendmal, ehe sie mit Kleingeld klimperte und sich fröhlich verabschiedete.
So war er, mein Onkel Waldemar: ein Freund und Helfer der Kunden. Wenn Sie in dieser Gemeinde mit knapp zweitausend Einwohnern gefragt hätten, was den Menschen zum Stichwort Post einfalle – der Name Waldemar wäre zuerst genannt worden, lange vor Brief, Porto und Postsparen.
Zusammen mit meiner Tante Rosemarie, »Rösle« genannt, natürlich ebenfalls Postlerin, lebte Waldemar seit Jahrzehnten in der Dachgeschosswohnung des Postgebäudes. Zur Not konnten ihn die Kunden auch noch nach Feierabend zum Schalterdienst herausklingeln. Waldemar liebte seine Kunden. Und seinen Arbeitgeber.
Die Geschichte nahm ein tragisches Ende. Die Post mutierte zur Aktiengesellschaft, mein Onkel ging in Pension, und seine Filiale machte dicht. Vielleicht hätte er das noch verschmerzt. Nur sollte die Wohnung – seine Post-Mietwohnung! – verkauft werden. Er wollte sie erwerben. Doch die neue Profit-Post nannte ihm keinen Preis. Vielmehr wurde der Postler Waldemar aufgefordert, dasselbe wie die anderen Interessenten zu tun: in einem verschlossenen Umschlag ein Angebot abgeben. Der höchste Bieter bekam die Wohnung. Waldemar lag an zweiter Stelle.
Der Fuß jenes Unternehmens, dem er Jahrzehnte gedient hatte, traf ihn an der empfindlichsten Stelle: Er verlor seine Wohnung. Und er verlor sein Gesicht. Wie hätte er, der Postler, den Menschen im Ort erklären sollen, dass ihn eben diese Post wie einen räudigen Köter aus seinen vier Wänden gejagt hatte?
Er floh aus der Gemeinde, ohne Abschied. Entgegen seinem Naturell ließ er sich in der nächsten Großstadt nieder. Es dauerte nicht lange, bis mich meine Mutter eines Morgens anrief und sagte: »Letzte Nacht ist der Waldemar gestorben. Ganz plötzlich.«
Bratwurst, Pommes, Postsparbuch
Obwohl meine Heimatgemeinde eines der beliebtesten Touristenziele im Schwarzwald ist, sucht man eine Postfiliale heute vergeblich. Wer nicht zufällig einen Schlag voller Brieftauben besitzt, die nebenbei auch noch Bankgeschäfte anbieten und Kontoauszüge drucken, den stellt die Post vor große Probleme.
Dabei hatte der gelbe Konzern vor seinem Rückzug aus der Gemeinde behauptet: Alles bleibt beim Alten! Denn die offizielle Niederlassung, die er schloss, sollte durch eine private Filiale ersetzt werden. Tatsächlich gab sich ein Tante-Emma-Laden einen gelben Anstrich. Dort nahm die Inhaberin, wie sie gelegentlich neue Sorten Klopapier anbot, nun eben auch Post- und Bankdienstleistungen in ihr Angebot auf.
Das Dorf war in hellem Aufruhr. Mit welchem Recht gewährte die Post einer Verkäuferin, die ja Privatperson war, Einblick in ihre Konten? Warum durfte sie wissen, wer pro Monat wie viel verdiente oder welche Kreditraten abzubezahlen hatte (so viel Diskretion hatte man
Weitere Kostenlose Bücher