König der Dunkelheit: Roman (German Edition)
Verschmitztheit lag in ihren Augen. Blau waren sie, diese Augen, hellblau wie Vergissmeinnicht.
»Was machst du hier draußen?«, fragte ich. Ruth gefiel mir. Sie hatte Schwung und erinnerte mich an ein Dienstmädchen namens Rachel in der Spukburg. Etwas an ihr machte mich
unerklärlich geil. Na schön, unerklärlich nur dann, wenn man nicht die acht Wochen auf der Straße berücksichtigt.
»Hier draußen?« Verwundert hob sie den Zeigefinger zum Mund – es war ein hübscher Mund, muss ich sagen – und tastete damit nach einem Zahn.
»Ma« kam mit einem Tontopf aus der Küche. Sie hielt ihn an einem rußgeschwärzten Griff aus Holz, damit ihr die Hitze nicht die Finger verbrannte. Makin stand auf, um ihr zu helfen, aber sie beachtete ihn nicht. Neben ihm wirkte sie winzig, gebeugt unter der Last ihrer Jahre. Sie stellte den Topf vor mich, streckte die knochige Hand nach dem Deckel aus und fragte: »Salz?«
»Warum nicht?« Ich hätte um Honig gebeten, aber dies war nicht die Spukburg. Haferbrei mit Salz ist besser als ohne, selbst wenn man eine Woche lang an Herzog Maladons Tischen mehr als genug Salz gegessen hat.
»Oh«, sagte Ruth. Ihre Hand verließ den Mund mit einem Zahn. Es war kein kleiner Zahn, sondern ein großer Backenzahn von hinten, mit langen weißen Wurzeln und mit dunklem Blut verschmiert, so dunkel, dass er fast schwarz war. »Es tut mir leid«, sagte sie und streckte die Hand weit von sich, als könnte sie den Anblick nicht ertragen, aber als wäre sie auch nicht imstande, den Blick davon abzuwenden.
»Macht nichts«, sagte ich. Es ist seltsam, wie schnell sich unpersönliche Lust in Abscheu verwandeln kann. Vielleicht stimmt es, was die Dichter behaupten, vielleicht ist beides nur durch eine dünne Linie getrennt, ebenso wie Liebe und Hass.
»Vielleicht sollten wir essen«, sagte Makin.
Beim Gedanken an Essen drehte sich mir der Magen um. Der Sumpfgestank, der immer noch nicht ganz verschwunden war, kehrte mit neuer Kraft in die Hütte zurück.
Ma brachte drei Holznäpfe, einer mit geschnitzten Blumen geschmückt, und einen Stuhl, der für die Hütte zu fein wirkte. Sie setzte die Näpfe auf den Tisch, den mit Schnitzereien verzierten für mich, und einen vor den neuen, leeren Stuhl. Den dritten behielt sie in der Hand und schaute sich verwirrt nach etwas um. Sie hob die freie Hand zum Kopf und rieb sich geistesabwesend die Schläfe.
»Hast du etwas verloren?«, fragte ich.
»Einen Schaukelstuhl.« Sie lachte. »In einer so kleinen Hütte. Hier sollte eigentlich kein Stuhl verlorengehen können.« Sie ließ die Hand sinken, zwischen den Fingern ein weißes Haarbüschel. Wo es sich eben noch befunden hatte, zeigte sich rosarote Haut. Sie betrachtete das Büschel ebenso erstaunt wie ihre Tochter den Zahn.
»Du hast von der Burg des Herzogs gesprochen, Ruth«, sagte Makin vom Schaukelstuhl. »Welchen Herzog meinst du?« Makin konnte einem Moment die peinliche Schärfe nehmen, aber die beiden Frauen sahen ihn nicht an.
Ma stopfte das Haar in eine Tasche ihrer Schürze und schlurfte in die Küche zurück. Ruth legte den Zahn aufs Fensterbrett. »Soll es nicht Glück bringen?«, fragte sie. »Wenn man einen Zahn verliert? Das habe ich irgendwo gehört.« Sie öffnete die Fensterläden. »Lassen wir den Morgen herein.«
»Welcher Herzog regiert hier?«, fragte ich.
Ruth lächelte. In ihrem Mundwinkel zeigte sich ein kleiner Fleck aus schwarzem Blut. »Habt ihr euch vielleicht verirrt? Natürlich der Herzog Gellethar!«
In dem Moment wurde mir klar, was fehlte. Der tote Junge, der Kupferkästchen-Knabe, der immer in den Schatten lag. Aber hier nicht. Diese Schatten waren zu voll.
Die Eingangstür sprang auf, und der kleine Jamie lief herein.
Jungen eines gewissen Alters scheinen immer zu rennen. Jamie streifte den Türpfosten und verlor ein Stück Haut an einen Nagel.
Er lief zu mir, mit Rotz auf der Oberlippe. »Wer bist du? Wer bist du, Herr?« Die Verletzung schien er gar nicht zu bemerken. Unter der fehlenden Haut zeigte sich deutlich das Muskelgewebe.
»Dann heißt dieses Land …« Ich achtete nicht auf den Jungen und sah in Ruths hellblaue Augen.
»Gelleth natürlich.« Sie deutete aus dem Fenster. »Der Honasberg befindet sich im Westen. In klaren Nächten kann man manchmal die Lichter sehen.«
Makin mochte derjenige von uns sein, der am besten mit Karten zurechtkam, aber ich wusste, dass wir fünfhundert Meilen von Gelleth und dem Staub entfernt waren, in den ich den
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