König der Seelen (Höllenfeuer) (German Edition)
genau dasselbe – das sie ihr Leben an sich vorbeiziehen sahen.“
Raphael schürzte die Lippen und nickte. „So ist das bei euch Menschen? Sieh an…“
„Zumindest sagt man so“, erwiderte Eleanor ausweichend. Sie erinnerte sich in diesem Augenblick mit Schaudern an den Tag, als sie ihrem Leben ein Ende hatte setzen wollen. Mit einem Mal war alles wieder so lebendig, als sei es gerade gestern erst geschehen. Sie hatte an einer Wand ihres Zimmers gelehnt. Ihr Blick war auf die Rasierklinge gerichtet gewesen, die wie von selbst durch ihre Haut und das Fleisch geglitten war. Es hatte nicht einmal wirklich wehgetan. Es war eher unangenehm gewesen, irgendwie nicht richtig. Dann war plötzlich das Blut dagewesen, sehr schnell und sehr viel. Es war an ihrem Arm herabgelaufen und war auf den Teppich getropft. Seltsamerweise hatte sie in diesem Moment nur daran denken können, dass sie gerade den Teppich vollsaute und ihre Mutter das nicht gut finden würde. Sie hatte sogar aufstehen wollen, um ins Badezimmer zu gehen. Dort würde das Blut leichter zu entfernen sein. Doch der Anblick des vielen Blutes, das den Teppich zu durchtränken begann, hatte sie zurückfallen lassen. Ihr Kreislauf sackte ab und sie schloss wie von selbst die Augen. Dort war nichts gewesen als Schwärze. Ihr Leben war nicht an ihr vorbeigezogen, keine Bilder, keine Gefühle oder Geräusche. Nichts. Überhaupt nichts…
Mit einem Schütteln kam Eleanor zurück in die Gegenwart. Sie blickte Raphael und Michael unauffällig von der Seite an, doch keiner der beiden schien bemerkt zu haben, dass sie im Geiste gerade an einem ganz anderen Ort gewesen war.
„Gegen den Geist kann ich vielleicht etwas tun“, sagte Raphael in diesem Augenblick. „Ihr habt doch einen Keller, oder? Ich könnte Jonathan einschüchtern und ihm befehlen, dass er den Keller nicht verlassen darf. Nach der heutigen Nacht ist er mit Sicherheit so verängstigt, dass er sich nicht gegen einen solchen Befehl wehren wird. So hättest du zumindest im Rest des Hauses deine Ruhe. Kritischer ist der Umstand, dass gefallene Engel an dir Interesse haben könnten und ich dich dort nicht schützen kann…“
„Ist das überhaupt nötig?“, wagte Eleanor einzuwerfen. Die beiden starrten sie verwirrt an.
„Denkt doch einmal nach“, fuhr sie fort. „Von Lilith geht für ihn kaum eine Gefahr aus. Immerhin hat sie selbst ihm die Gabe gegeben, Engel sehen zu können. Sie wird ihm die Gabe auch nicht nehmen, immerhin baut sie darauf, dass Michael Unfrieden zwischen uns sähen wird…“
Michael konnte nicht anders, als bei diesen Worten mit den Zähnen zu knirschen und finster zu Boden zu starren.
„Für ihn hat die Gabe außerdem den Vorteil, dass sich ihm kein Dämon nähern kann, um ihn zu verführen“, führte Eleanor weiter aus. „Michael wird ihn ja erkennen. Im Regelfall wird ein Dämon ihn auch nicht töten, weil das seinem Ziel zuwiderläuft, den Betroffenen zur Hölle zu schicken. Er könnte ihm bestenfalls das göttliche Feuer entziehen, was Michael aber keinen weiteren Schaden zufügt. Zudem kann Michael das göttliche Feuer jederzeit von einem anderen Engel zurück erhalten. Wir wüssten dadurch nur, dass sich ihm jemand in böser Absicht genähert hat. Ein untrügliches Indiz.“
Raphael und Michael blieben stehen und sahen Eleanor beeindruckt an.
„Sie hat recht“, meinte Michael an Raphael gewandt. „Es klingt vollkommen logisch. Eigentlich sollte mir tatsächlich nichts geschehen können.“
Auch Raphael nickte.
„Ich wäre dir aber trotzdem dankbar, wenn du dich um diesen Jonathan Towers kümmern würdest“, setzte er hinzu. „Ich finde den Gedanken wenig erbaulich, dass diese Schauergestalt nachts plötzlich an meinem Bett steht und mit den Ketten rasselt.“
„Ketten? Was für Ketten?“, fragte Raphael irritiert.
„Nur so eine Redensart.“
„Ah, ich verstehe.“ Raphael nickte wieder und setzte sich in Richtung auf das Haus der Familie Jones in Bewegung. Über die Schulter hinweg sagte er: „Bleib ein paar Minuten hier draußen bei Eleanor stehen. Ich bin gleich wieder da.“
Und während er auf das Haus zu schwebte, ging ein Leuchten durch ihn hindurch, als er die Gestalt eines geflügelten Engels annahm. Scheinbar mühelos glitt er durch die steinerne Wand des Hauses und verschwand aus ihren Blicken. Dann hörten Michael und Eleanor einen schrillen Schrei aus dem Inneren des Hauses. Ganz offensichtlich hatte Raphael Jonathan Towers
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