König der Seelen (Höllenfeuer) (German Edition)
vergebens an Raphaels Tür. Sie öffnete die Tür schließlich vorsichtig und spähte in sein Zimmer, doch es war nirgends ein Zeichen von ihm zu entdecken.
Sie ging zum Frühstück hinunter in den großen Speisesaal, doch auch dort traf sie ihn nicht an. Das war merkwürdig, denn sie hatten sich gestern Abend voneinander getrennt, ohne dass es den geringsten Hinweis auf Verstimmungen gegeben hatte.
So lief Eleanor zunächst hinaus in den Park, in der bangen Hoffnung, dass er sich dort aufhalten könnte. Mittlerweile begann sie sich zu fürchten. Sollte ihm etwas zugestoßen sein?
Auch unten am See fand sie ihn nicht. Die Wasseroberfläche lag still unter einem grauen, trostlosen Himmel und der gestürzte Baumriese trieb noch immer wie ein halb gesunkenes Schiff inmitten abertausender Blätter, die nun langsam von ihm abzufallen und zu welken begannen.
Hilflos sah Eleanor sich um. Wo konnte er nur sein? Wo mochte er hin sein, nachdem er bei Elizabeth gewesen war…?
Elizabeth… vielleicht war er noch bei ihr auf dem Dachboden. Das war die letzte Möglichkeit, eine andere gab es nicht.
Eleanor wandte sich um und ging zügig auf das Haupthaus zu. Nach einigen Metern fing sie an zu laufen. Sie rannte mit aller Kraft, blickte nicht länger nach rechts oder links, sondern starrte im Lauf allein auf die kleinen Dachfenster des mächtigen Haupthauses. Mehrfach strauchelte sie, doch jedes Mal fing sie sich erneut und stolperte dann weiter. Mittlerweile liefen ihr Tränen die Wangen hinab und sie schluchzte atemlos.
Sie rannte die kleine Treppen zur Gartentür des Hauses hinauf und rempelte dabei den Pfleger Jeffrey Cates an, der ihr gerade entgegenkam. Ohne auf sein Rufen zu achten rannte sie weiter, den kurzen Flur entlang, der sie von hier ins westliche Treppenhaus führte. Dort polterte sie die Stufen zum Dachgeschoss hinauf, ohne sich auch nur umzusehen.
Wäre in diesem Augenblick jemand vom Pflegepersonal hier gewesen, so wäre sie sicherlich aufgehalten worden, doch Eleanor hatte Glück, ohne sich dessen bewusst zu sein.
Die Tür zum Dachboden war nur angelehnt – ein Umstand, der normalerweise für Furore gesorgt hätte, denn Patienten durften nicht hierher kommen. Offenbar aber sahen nur sehr selten Angestellte des Sanatoriums hier nach dem Rechten und so war Raphaels und Elizabeths Eindringen noch nicht bemerkt worden.
Eleanor stieß die Tür auf und rannte auf den dunklen Dachboden. Das mächtige, hölzerne Gebälk der alten Konstruktion lag im Dämmerlicht, denn nur an wenigen Stellen durchbrachen winzige Dachfenster die allgegenwärtige Dunkelheit. Sie allein schickten lange blasse Lichtstrahlen durch die trübe Luft. Es roch nach altem Holz und Staub.
Dort hinter dem Holzpfeiler hatte sich etwas bewegt. Ein Licht. Dort mussten die beiden sein. Eleanor rannte durch den Raum, vorbei an alten Kisten und Truhen. Über Zeitungsstapel und anderen Unrat hinweg. An riesigen Schränken und anderen ausrangierten Möbelstücken vorbei. Atemlos bog sie um die Ecke und dort, auf dem Boden, kauerte die leuchtende Gestalt Elizabeths.
„Elizabeth, was hast du?“, hauchte Eleanor, doch sie kannte die Antwort schon, bevor ihre Freundin das Gesicht hob und sie gequält ansah. Eleanor war sich sicher, wenn Elizabeth noch einen richtigen Körper gehabt hätte, dann wären ihre Wangen jetzt tränenüberströmt gewesen.
„Was ist passiert?“, fragte sie wieder, während sie neben Elizabeth auf die Knie fiel.
„Er ist weg“, weinte sie. „Raphael ist weg. Lilith hat ihn mitgenommen…“
Eleanors Herz schien einen Augenblick auszusetzen. „Aber… wie kann das sein?“, stammelte sie fassungslos. „Er ist ein Engel. Sie kann ihn doch nicht gegen seinen Willen mitnehmen. Er würde sich wehren…“
Wieder schluchzte Elizabeth auf. „Lilith war nicht allein. Asasel war bei ihr. Sie haben ihn erpresst. Lilith wollte, dass er dich aufgibt und zu ihr kommt. Sie sagte, wenn er es nicht täte, würden sie dich töten und auch mich zurück ins Totenreich schicken. Er hatte keine andere Wahl. Sie waren zu zweit. Er hätte sie nie beide töten oder abwehren können. Stattdessen hätten sie ihn gemeinsam töten können und wären dennoch mit dem Leben davongekommen…“
Irgendetwas in Eleanor zerbrach bei diesen Worten. Jetzt war es also doch geschehen – die anderen hatten sie auseinander gebracht. Ihr Hass auf Raphael und sie war so übermächtig geworden, dass sie selbst vor Morddrohungen nicht halt gemacht
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