König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)
sagen kann! Wenn ihm doch die Worte im Hals stecken bleiben, wahrscheinlich weil er zu empfindsam ist, um zu begreifen, worauf es ankommt in der Welt: dass man nun einmal den Stier bei den Hörnern zu packen habe und sich nicht drücken dürfe vor den sagenhaften Zwittertieren, die aus dem Meer steigen und einem nahe kommen, ja, wirklich nahe. Wir aber, wir tun es.« Justin steht auf, geht mit geradem Rücken und ganz heraus gestrecktem Kopf zum Podium und schiebt Frau Professor Stein ein wenig zur Seite. Er nimmt eine Kreide und beißt ein Stück von ihr ab. Mit dem Rest bestreicht er sich die Lippen, presst sie aufeinander und lässt den rot und überrot anlaufenden Kopf von rechts nach links, von links nach rechts wandern, als ob er durch uns alle, die wir da sitzen, mit der Linie seines ganz geschlossenen, weißen Mundes einen Strich ziehen wollte. Wie mit Zauberhand fischt er aus dem Dunkel einen großen, ziegelartigen Stein und schreibt mit ihm große Buchstaben in die Luft, immer und immer wieder. Und legt sich, den Stein in den Händen, zu Boden, und hebt den Kopf und bewegt seinen Mund, als ob er spräche. Und erhebt sich aufs neue und schaut Flora so eindringlich an, dass mir alles vor den Augen verschwimmt, und legt sich wieder zu Boden. Er kracht mit den Fingern, dass es weh tut in meinen Ohren. Von Professor Stein ist nichts mehr zu sehen, wahrscheinlich steht sie bereits draußen, auf der obersten Stufe der Rampe, und setzt, »den Stier bei den Hörnern packend«, Floras Vortragsidee gleich in die Tat um. Ich zeichne in mein Notizbuch einen Balkon, auf dem hoch aufgerichtet ein Menschenerforscher steht, vielleicht der Doktor aus dem Theaterstück, der seinem Probanden mit Erbsen das Maul stopft. Mit dem Stab, den er in der Hand hält, fuchtelt er in der Luft herum und setzt ein Rufzeichen an das Ende eines jeden Wortes, das er spricht. Und wie viele das sind. Nie werden sie ihm ihren Dienst versagen, nie, und schon gar nicht, wenn er, wie jetzt, über »die Kreatur« spricht, »die Natur«, die überwinden muss, wem das Licht im Zimmer und das Wort nicht ausgehen sollen. Und er deutet auf sein leibhaftiges Experiment, die Kreatur, die jetzt da unten beinah wie ein wirklicher Mensch vorbeigeht und die Arme aufhält, weil eine Katze wie vom Himmel herunter fällt. Und wie sie zittert! Wie sie bebt, die Katze, und wie der Erbsenfresser gar nicht anders kann als ihren Puls zu fühlen, ihr schnell, schnell schlagendes Herz. Sehen Sie, Herr Doktor, wie die Katze zittert? Sehen Sie, Frau Professor, wie Flora weint, so ergriffen ist sie von Ihren Worten? Und draußen auf der Rampe, hoch oben, prangt ein Stein und spricht zu den Menschen auf der Straße und legt ihnen die Schrift aus und erklärt, dass nichts m ehr stocke, obwohl alles geradezu nach einer Unterbrechung schreie. Brüllt, Volk, nicht sogar der Löwe im Zoo und auch der aus Stein auf der Brücke nach einem Ende? O ja, Volk, gewiss, denn die Dichter haben die Stimme verloren, sie sind tot, und schlafen, mit einem warmen Schal um den Unterleib, in den Büchern und träumen und lassen sich kaum noch an der Schulter berühren. Applaus, Applaus!
X.
Professor Icks streift mich, streicht mir über den Nacken mit seinem Blick, denn er steht ein kleines Stockwerk über mir, auf der Galerie der Bibliothek, bei den Büchern aus den früheren Jahrhunderten, und schaut auf die Blätter. Ob er wohl meine Prüfungsarbeit schon gelesen hat, die zwei, drei Seiten aus meiner eigenen Wirklichkeit? Gleich werde ich die Wendeltreppe von seinen Schritten knarren hören, und in dem Augenblick, in dem er die Türklinke schon in der Hand hält, wird er sich noch einmal umdrehen und mir winken, wie zum Abschied. Und Röte steigt in mein Gesicht, und mein Herz klopft so schnell wie das der Katze, die die arme Kreatur auffängt, weil der Doktor sie zum Beweis für die Schwerkraft hinunter auf die Straße werfen muss. Ich möchte schnell nachhause, wenn’s das noch gibt und mich vergewissern, ob mir dort, trotz allem, das Sofa noch einen Polster unter die Wangen schieben mag. Damit ich weiter träumen kann? Von Menschen, die mitten im Sturm auf Bäume klettern und sich im freien Fall in ein Blatt verwandeln, das durch die Lüfte schwebt, vorbei an der Nase des Gärtners und hinein auf den Schreibtisch von Professor Icks. Lieber Herr Professor Icks, nicht wahr, nur Götter und Blätter dürfen einen andern fragen, wer er sei, niemals aber darf ein Mensch, und schon gar nicht
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