König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)
einer, der in der Bibliothek des Instituts für Gedankenkunde und Verstehen zwischen Buchseiten einschlummert, den Mund so weit aufmachen und einen andern Wer bist du fragen? Es könnte sein, er muss dann frühzeitig das große, schöne Gebäude verlassen und über die Rampe fliegen und als ein Vogel gegen die Scheiben der in einem fort fahrenden Autos stürzen. Aber was machte das, im Verhältnis zur großen Prüfung, die darin besteht, noch einmal mit festen, sicheren Beinen an Frau Professor Stein vorbei zu schwanken, die hoch oben auf der obersten Stufe der Treppe einen Redeschwall übers Volk ergießt, um es daran zu erinnern, dass längst nichts mehr stocke? Ach was, nach Hause muss ich, nach Hause, und vor dem matten Spiegel, der jedes Bild mit Nebel beschlägt, das Volk zum Besten geben. Und schau, es hebt in der Straßenbahn ja nicht einmal das Kinn, um Professor Steins Vortrag zu hören. Früher, nicht wahr, in den Büchern auf der Galerie, den Blättern, die aus vergangenen Jahrhunderten überliefert sind, hat sich das Volk auf der Straße zu einem Häufchen oder einem Haufen versammelt, und hat dann und wann die Fäuste einzelner gegen den Himmel erhoben, gegen den Balkon, von dem der Doktor die Katze fallen lässt. Und hätten sich die Arme der Kreatur, die sich da wie ein wirklicher Mensch unter die andern mischt, nicht ausgestreckt, um die Katze aufzufangen – wer hätte sie zittern fühlen? Jetzt, in einem der nächsten Augenblicke, setzt sich das Volk in meiner Gestalt und im Mundschenk-Kostüm, aufs Sofa und streckt die Beine aus und seufzt in mein Zimmer hinein. Nein, nein, sagt es, ich werde den Brief nicht schreiben an den Professor, ich werde auch mit den Händen schweigen. Nein, nein, wiederholt es, die Katze muss von nun an durchs Fenster ins Zimmer springen, auf den Schreibtisch von Professor Icks und dort um sein zornigmüdes Haupt herum schnurren und ihr Gemach dem Blatt überlassen, wo Lina Lorbeers Wirklichkeit sich weit, so weit aus dem Fenster lehnt. Etwa um die Straße, von wo her lauter Schieben und Stampfen und Tratschen und Drängen ins Zimmer flieht, mit beinahe Nichts-Mehr-Sagen zu durchwehen? Ach, Lina Lorbeer (Professor Icks lacht) – zu durchwehen . Wehen, Wehen.
Es ist hier still geworden und immer noch kalt. Ich wickle eine Decke um mich herum und drehe ein paar Runden im Zimmer und wische wahrscheinlich den Staub vom Boden, Staub, was sonst, Sandkörner sind ja nun wirklich keine hier. Fragte nicht irgendwann Professor Icks, ob wir etwa glaubten, der Boden unter unsern Füßen »sei eine Menge Sandkörner«? Vielleicht können Sandkörner wirklich keinen Boden bilden, aber auch, wenn ich davon absehe, glaube ich hier fast gar nichts mehr. Dass mir das geschehen könnte, hatte ich wohl am allerwenigsten erwartet. Aber was überhaupt wünschte und erwartete ich denn von meiner Einschreibung hier? Ich scheine ja davon nicht das geringste Bewusstsein gehabt zu haben. Lina Lorbeer ist aufgenommen, ja aufgenommen , weiter nichts. Hatte ich etwa gar keine Wünsche? Kein Verlangen nach einem gänzlich eigenartigen, fremden Durchweht-Werden? Oder war ich nur so selbstverständlich eins mit dem, wovon ich angezogen werden wollte, dass nicht einmal am Horizont die Notwendigkeit schimmerte, mir darüber Rechenschaft zu geben? Gar keine Trennung, kein Schnitt zwischen Kopf und Rumpf? Lina, mach dir nichts vor, das wäre zu schön, um wahr zu sein. Mit ein paar Furchen und Trennungen geht jeder von zuhause fort, mit ein paar mehr kommt er wieder nach Hause, wo auch immer das ist. Es wird Zeit, dass der Reisende an die Tür klopft und mich an etwas erinnert: Lina Lorbeer, wollten Sie nicht an die Straße einen Brief schreiben? Sie wissen doch noch, was Sie überkam, als Sie ins Bild an der Wand stiegen, in die Kopie, nur um in Erfahrung zu bringen, was Ihnen ein fremder Gedanke ist und wie Sie mit ihm Umgang pflegen? Ein leichter und freier, ein überall, im ganzen Dunkel, auf Sie wartender Gedanke? Ich schlage die Augen nieder und rolle mich, mit der Decke um mich, auf dem Sofa zusammen. Finster ist’s, nur ein Hauch vom Licht der Straßenlampe und das kleine Feuer im Kamin am Bild, scheinen wider von dem kleinen Flecken Wand, auf den ich schaue. Es knistert darin, es flüstert so zart, dass ich den Atem anhalte. Und der Gedanke schmiegt sich an mich, so sanft und unnachgiebig, dass ich nicht mehr weiß, ob ich noch ich oder schon ein anderer bin, einer, bei dem ich Zuflucht suche,
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