König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)
andere schon waren, und sehe doch nur, was diese anderen auch schon gesehen haben: zu Boden schwebende Blätter, Laub und Geister und Menschen, vor denen ich mich fürchte, aus gar keinem Grund. Tut es etwa not, sich vor Professor Stein zu fürchten? Nur weil sie mich in ihrem Büro darauf aufmerksam macht, dass Flora gut im Büchertragen sei, wohingegen sie im Hörsaal, wenn Flora Trübheit in meine Spur im Bild bringt, Beifall klatscht und verkündet, so, ja so, habe man heute zu reden, zumal wenn man, wie wir hier, Verstehen und Gedanken erkunden lernen wolle? Dieser Zwiespalt ist doch wohl nur eine kleine, gut gemeinte Freundlichkeit, mit der Professor Stein uns allen das Leben erleichtern will, nichts weiter. Und bestimmt vergisst sie gleich wieder, dass sie sich einmal so, dann anders zu ein und derselben Sache äußert, je nachdem. Hier vergessen ja alle ihre eigenen Worte und Handlungen so schnell, dass derjenige, der Freude an der Erinnerung hat, besser auf der Rampe auf den Händen, auf dem Kopf geht, und sei’s auch nur, um die Möglichkeit solcher Bewegung und Verkehrung in der Welt aufrechtzuerhalten. Freilich, meine Figur mit dem Allerweltsnamen kann nicht anders als so vorankommen. Denn eine Figur, die sich einbildet, gewisse Handlungen hätten unbedingt Sinn und wären märchenhaft, auch wenn sie weder Glück noch Erfolg versprächen, hat nicht viele Möglichkeiten zur Auswahl. Traurig muss sie sein wollen, wütend, tapfer und sehr sanft, und jeder Lebenslauf sie misstrauisch stimmen, in dem die Trauer, die Wut, die Sanftmut und die Tapferkeit zum Zweck des großen Verstehens ausgebrannt sind. Ausgebrannt, heruntergebrannt. Ja, leider. Die ganze Zeit über spricht meine Figur beiseite, wie in ein leeres Zimmer hinein. Um dort von niemandem als Agnes gehört zu werden, deren Zunge sich schon an den Lauten verhängt, bei denen sie noch beinah gar nicht von Nutzen ist? Die ihre Angst mit den Füßen in den Boden schrieb, auf dass irgendwann jemand komme und lese, was nicht die geringste Spur hinterlassen hat? Meine Figur aber kann lesen, was nur so vorbeihuscht und in gar kein Bewusstsein dringt. Ich fürchte beinahe, sie ist, ob sie will oder nicht, mit der Dunkelheit verbunden. Und mag doch keine Bündnisse! Und aus der Dunkelheit ruft es laut JA zu einem Menschen mit einem widrigen Ansinnen. Wie geht das? rufe ich sie immer wieder an, nachts zum Beispiel, wenn ich nicht schlafen kann und mir keine Ruhe lässt, was hier vor sich geht. Und dann, im Schlaf, erscheint mir Professor Steins Büro als unwahres Wohnzimmer. Verwandelt sie ihr Büro mit Absicht? Um die letzte Fremdheit zwischen sich und ihrem Leben (Babel, glaub ich, ja, das glaube ich) zunichte zu machen? Lina Lorbeer, fragen Sie nicht so viel (es ist der Reisende). Aber (das bin ich) Frau Professor Stein meinte, ich könne so hübsche Fragen stellen, ja, das Fragenstellen sei meine Gabe. – Aber hat sie nicht auch gemeint, dass Sie der Welt auch antworten müssen, mit dem Fragen allein sei es nicht getan? – Hm. Meine Frage ist aber ein wenig auch eine Antwort, glaub mir, Reisender! – Wortverdreherei, Lina Lorbeer. – Still, Reisender! Zurück, schnell, zu meiner Figur, die eben an der Hand ihrer Lehrerin (o ja, sie hat eine Lehrerin, die sie verehrt) wie auf Schlittschuhen in ein inneres Gemach gleitet und alles, die ganze Welt, vor sich sieht: Gefrorenes, tausend Jahre altes Eis, und darin sprudelnde Quellen und hohes, feines Gras, durch das ausgesprochen wirkliche Hände fahren, die noch nichts davon wissen, dass man solches Streifen und Streichen mit sinnlosen Fragen bestrafen wird. Wieso mit den Händen ins Gras hören? Meine Figur (und jetzt läuft sie schon wie fliegend und zwar zur untersten Stufe der Rampe) weiß es auch nicht und schweigt. Stumm streicht sie über den Stoff ihrer Kleidung, und siehe da: Agnes taucht wieder auf und setzt sie, die schon ganz und gar erwachsen geworden ist, auf die Schaukel und gibt ihr einen kleinen feinen Stoß, damit sie im innersten Gemach der Lehrerin nicht bleiben muss.
Professor Icks steht hinter mir und klopft mir auf die Schulter. Sind schon zwei Tage vorbei? Habe ich denn geträumt? Und nicht einmal zwei Seiten geschrieben. »Geben Sie mir Ihre Prüfungsarbeit, schnell.« Ich überfliege mit einem Auge, was ich geschrieben habe, und mir will kein Wort über die Lippen kommen. Gewiss habe ich sehr, sehr weit das Thema verfehlt, meine Figur ist zu undeutlich geblieben und hat sich mit
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